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Trauma

Trauma

Titel: Trauma
Autoren: D Koontz
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flüsterte ich in der Dunkelheit.
    »Das kannst du gar nicht«, sagte sie. »Ich würde dich nämlich von drüben beobachten, und wenn du dich endlich zu mir gesellst, würde ich dir eins auf die Nase geben, weil du so lange getrödelt hast.«
    Wir schwiegen eine Weile. »Ich bin wie gelähmt«, sagte ich dann.
    »Eine Frage.«
    »Ja?«
    »Seit wir uns gefunden haben und wussten, es ist für immer, seit wir beide uns auf die Stärke des anderen verlassen können, wann waren wir da feige?«
    Darüber dachte ich eine Weile nach. »Wann denn?«, fragte ich schließlich.
    »Noch nie. Wieso sollten wir jetzt damit anfangen?«
    Monate später, als die kleine Rowena ankam, glitt sie so leicht heraus, als wäre da gar kein Widerstand gewesen. Sie war sechsundvierzig Zentimeter lang. Sie wog genau sieben Pfund. Sie litt nicht an Syndaktylie.

    Gerade als Charlene Coleman – an einem ihrer letzten Arbeitstage – Lorrie das frisch gewickelte Baby in die Arme legte, kam eine junge, rothaarige Schwester herein und fragte, ob sie kurz mit Dr. Melodeon sprechen könne.
    Mello trat mit ihr auf den Flur, blieb einige Minuten lang verschwunden, und als er wieder hereinkam, brachte er sie mit. »Das ist Brittany Walters«, sagte er. »Sie arbeitet auf der Intensivstation, und sie hat eine Geschichte zu erzählen, die ihr hören müsst.«
    Das ist sie: Vor achtundvierzig Stunden war eine alte Frau namens Edna Carter eingeliefert worden, gelähmt von einem schweren Schlaganfall. Auch sprechen konnte sie nicht mehr. An diesem Abend aber hatte sie sich urplötzlich im Bett aufgesetzt – wie sich herausstellte, wenige Minuten vor Rowenas Geburt – und war nicht mehr gelähmt gewesen. Sie hatte zu sprechen begonnen, klar, deutlich und mit großer Eindringlichkeit.
    Als Schwester Brittany diesen Punkt ihrer Geschichte erreicht hatte, wagte ich es nicht, zu Lorrie hinzuschauen. Ich wusste zwar nicht, was ich in ihren Augen sehen würde, aber ich hatte Angst, dass sie das Entsetzen in meinen sah.
    »Sie hat steif und fest behauptet, hier im Krankenhaus würde in wenigen Minuten ein Kind namens Rowena geboren werden«, fuhr die Schwester fort. »Es würde sechsundvierzig Zentimeter lang sein und haargenau sieben Pfund wiegen.«
    »Oje«, sagte Charlene Coleman.
    Schwester Brittany hielt mir einen Zettel hin. »Außerdem hat sie darauf bestanden, dass ich diese fünf Tage aufschreibe. Als ich damit fertig war, da … ist sie aufs Bett zurückgesunken und gestorben.«
    Meine Hand zitterte, als ich den Zettel entgegennahm.
    Ich warf Mello Melodeon einen Blick zu, doch dessen Miene
war durchaus nicht so grimmig, wie ich es in einem solchen Augenblick von einem Freund erwartet hätte.
    Widerstrebend betrachtete ich die Daten auf dem Papier und murmelte niedergeschlagen: »Fünf schreckliche Tage.«
    »Was haben Sie da gesagt?«, fragte Schwester Brittany.
    »Fünf schreckliche Tage«, wiederholte ich, ohne die Kraft zu haben, es zu erklären.
    »Das hat Edna Carter aber nicht gesagt«, erklärte Schwester Brittany.
    »Was hat sie denn gesagt?«, fragte Mello, doch ich sah, dass er die Antwort bereits wusste.
    Verblüfft über unsere Reaktionen, antwortete Schwester Brittany: »Also, sie hat mir gesagt, das wären fünf frohe Tage, die in einem glücklichen Leben kommen würden. Ist das nicht seltsam? Meinen Sie, es bedeutet irgendetwas?«
    Nun sah ich Lorrie doch endlich in die Augen.
    »Na, was meinst du? Bedeutet es etwas?«, fragte ich.
    »Ich hab so ein Gefühl, ja.«
    Ich faltete den Zettel zusammen, steckte ihn in meine Hosentasche und seufzte. »Ist ganz schön gespenstisch diesseits vom Paradies.«
    »Aber auch sehr schön.«
    »Und geheimnisvoll.«
    »Immer.«
    »Und lecker.«
    »Aber klar«, sagte Lorrie. »Sehr lecker sogar.«
    Sanft und ehrfürchtig nahm ich Lorrie die winzig kleine Rowena aus den Armen. So klein sie war, was ihren Mut und ihre Möglichkeiten anging, war sie nicht kleiner als wir anderen.
    Ich hielt sie so, dass sie von mir wegschaute, und drehte mich einmal im Kreis. Selbst wenn ihre Augen noch nicht in der Lage
waren zu fokussieren, konnte sie vielleicht doch den Raum sehen, in dem sie geboren worden war, und die Menschen, die dabei gewesen waren. Vielleicht fragte sie sich, wer die wohl waren und was jenseits dieses Raums auf sie wartete.
    »Rowena, dies ist die Welt«, sagte ich, während wir uns drehten. »Das ist dein Leben. Lass dich verzaubern!«

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
    Life
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