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Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
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Annette ging in ihr Geschäft auf dem Boulevard Saint-Germain. Ich wartete auf einer Bank bei dem Metro-Ausgang Odéon.
    Annette ließ lange auf sich warten. Was lag mir schließlich daran? Die Sonne schien auf meine Bank, ich sah den Leuten zu, die die Metro-Treppe hinauf- und herunterstiegen. Zwei alte Zeitungsverkäuferinnen schrieen den Paris Soir aus, in ihrem uralten gegenseitigen Haß, der noch wuchs, sobald die eine zwei Sous mehr einnahm, denn wirklich, obwohl sie nebeneinander standen, machte nur die eine Geschäfte, während der Packen der andren nie dünner wurde, die schlechte Verkäuferin wandte sich plötzlich gegen die glückliche und beschimpfte sie rasend, ihr ganzes verdorbenes Leben warf sie ihr blitzschnell an den Kopf, dazwischen schrie sie: »Paris Soir!« Zwei deutsche Soldaten kamen herunter und lachten, das verdroß mich sehr, als sei die versoffene Schreierin meine französische Pflegemutter. Die Portiersfrauen, die neben mir saßen, erzählten von einer jungen Person, die die ganze Nacht geweint habe, denn sie sei von der Polizei sistiert worden, wie sie mit einem Deutschen gelaufen sei, und ihr eigener Mann sei in Gefangenschaft – die Camions der Flüchtlinge rollten noch immer unaufhörlich über den Boulevard Saint-Germain, dazwischen sausten die kleinen Hakenkreuzautos der deutschen Offiziere. Schon fielen einzelne Blätter aus den Platanen auf uns herunter,denn dieses Jahr wurde alles früh welk, ich aber dachte, wie schwer es mich drückte, daß ich soviel Zeit hatte, ja, schwer ist es, den Krieg als Fremder in einem fremden Volk zu erleben. Da kam das Paulchen daher.
    Paulchen Strobel war mit mir im Lager gewesen. Man hatte ihm einmal beim Ausladen auf die Hand getreten. Drei Tage hatte man dann geglaubt, die Hand sei futsch. Er hatte damals geweint. Wirklich, ich habe das gut verstanden. Er hatte gebetet, als es hieß, die Deutschen umzingelten bereits das Lager. Glauben Sie mir, ich habe auch das verstanden. Von solchen Zuständen war er jetzt weit entfernt. Er kam aus der Rue de l’Ancienne Comédie. Ein Kumpan aus dem Lager. Mitten im Hakenkreuz-Paris! Ich rief: »Paul!« Er fuhr zusammen, erkannte mich. Er sah erstaunlich munter aus. Er war gut gekleidet. Wir setzten uns vor das kleine Café auf dem Carrefour de l’Odéon. Ich war froh, ihn wiederzusehen. Er aber war ziemlich zerstreut. Ich hatte bisher in meinem Leben mit Schriftstellern nichts zu tun gehabt. Mich haben die Eltern Monteur werden lassen. Im Lager hatte mir jemand erzählt, der Paul Strobel sei ein Schriftsteller. Wir hatten auf demselben Dock ausgeladen. Die deutschen Flugzeuge waren en pique auf uns heruntergestoßen. Für mich war das Paulchen ein Lagerkumpan, ein etwas komischer Kumpan, ein etwas verrückter Kumpan, aber immer ein Kumpan. Ich hatte seit unserer Flucht nichts Neues erlebt, das Alte war mir noch nicht verraucht, ich war ja auch immer noch halb auf der Flucht, halb versteckt. Er aber, das Paulchen, schien dieses Kapitel abgeschlossen zu haben, ihm schien etwas Neues unterlaufen zu sein, das ihn stärkte, und alles, worin ich noch immer steckte, war für ihn schon Erinnerung. Er sagte: »Ich fahre nächste Woche ins Unbesetzte. Meine Familie wohnt in Cassis bei Marseille. Ich habe ein Danger-Visum für die Vereinigten Staaten.« Ich fragte ihn, was das sei. – Das sei ein Spezialvisum für besonders gefährdete Leute. – »Bist du denn besonders gefährdet?« Ich hatte mit meiner Fragegemeint, ob er denn vielleicht noch auf eine andere, seltsamere Art gefährdet sei als wir alle auf diesem gefährlich gewordenen Erdteil. Er sah mich erstaunt, ein wenig ärgerlich an. Dann sagte er flüsternd: »Ich habe ein Buch gegen Hitler geschrieben, unzählige Artikel. Wenn man mich hier findet – Worüber lachst du?« – Ich hatte gar nicht gelächelt, es war mir auch gar nicht danach; ich dachte an den Heinz, der von den Nazis halbtot geschlagen worden war im Jahre 1935, der dann im deutschen Konzentrationslager gesessen hatte, dann nach Paris geflohen war, nur um nach Spanien zu den Internationalen zu kommen, wo er dann sein Bein verlor, und einbeinig war er weitergeschleppt worden durch alle Konzentrationslager Frankreichs, zuletzt in unseres. Wo war er jetzt? Ich dachte auch an Vögel, die abfliegen können, in Schwärmen, die ganze Erde war unbehaglich, und doch war mir diese Art Leben ganz lieb, ich neidete Paulchen das Ding da nicht, wie hieß es? – »Das Danger-Visum wurde mir auf dem
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