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Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
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Deutschen noch zwei Tage, schon zwei Stunden weit? Dabei war unser Kommandant noch nicht einmal der Schlimmste, man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Für ihn war es noch ein echter Krieg, er verstand die ganze Niedertracht nicht, das Ausmaß des Verrats. Schließlich trafen wir mit dem Mann eine Art von unausgesprochener Vereinbarung. Ein Maschinengewehr blieb vor dem Tor, weil der Gegenbefehl nicht gekommen war. Er würde aber vermutlich nicht allzu schlimm hinter uns herknallen, wenn wir über die Mauer kletterten.
    Also kletterten wir, ein paar Dutzend Leute, nachts über die Lagermauer. Einer von uns, der Heinz hieß, hatte sein rechtes Bein in Spanien verloren. Nach dem Ende des Bürgerkrieges hatte er lange in südlichen Lagern herumgesessen. Weiß der Teufel, durch welche Verwechslung er, der wirklich für kein Arbeitslager mehr taugte, plötzlich zu uns herauf verschleppt worden war. Diesen Heinz mußten jetzt seine Freunde über die Mauer heben. Sie trugen ihn abwechselnd, weil es furchtbar eilte, in die Nacht, vor den Deutschen her.
    Jeder von uns hatte einen besonders triftigen Grund, nicht in die Hände der Deutschen zu fallen. Ich selbst war im Jahre 1937 aus einem deutschen KZ getürmt. Warbei Nacht über den Rhein geschwommen. Darauf war ich ein halbes Jahr lang ziemlich stolz gewesen. Nachher kamen andere neuere Sachen über die Welt und über mich. Jetzt, bei der zweiten Flucht, aus dem französischen Lager, dachte ich an die erste Flucht aus dem deutschen. – Fränzchen und ich trabten zusammen. Wie die meisten Menschen in diesen Tagen hatten wir das kindische Ziel, über die Loire zu kommen. Wir vermieden die große Straße, wir liefen über Felder. Wir kamen durch verlassene Dörfer, in denen die ungemolkenen Kühe brüllten. Wir suchten etwas zum Beißen, aber alles war ausgefressen, vom Stachelbeerstrauch bis zur Scheune. Wir wollten trinken, die Wasserleitungen waren durchschnitten. Wir hörten jetzt keine Schüsse mehr, der Dorftrottel, der allein zurückgeblieben war, konnte uns keine Auskunft geben. Da wurde uns beiden bang. Diese Abgestorbenheit war ja beklemmender als die Bombardements auf den Docks. Schließlich stießen wir auf die Pariser Straße. Wir waren wirklich noch längst nicht die letzten. Aus den nördlichen Dörfern ergoß sich noch immer ein stummer Strom von Flüchtlingen. Erntewagen, hoch wie ein Bauernhaus, mit Möbeln beladen und mit den Geflügelkäfigen, mit den Kindern und mit den Urahnen, mit den Ziegen und Kälbern, Camions mit einem Nonnenkloster, ein kleines Mädchen, das seine Mutter auf einem Karren mitzottelte, Autos, in denen hübsche steife Weiber saßen in ihren geretteten Pelzen, aber die Autos waren von Kühen gezogen, denn es gab keine Tankstellen mehr, Frauen, die sterbende Kinder mitschleppten, sogar tote.
    Damals durchfuhr mich zum erstenmal der Gedanke, warum diese Menschen eigentlich flüchteten. Vor den Deutschen? Die waren ja motorisiert. Vor dem Tod? Der würde sie ohne Zweifel auch unterwegs einholen. Aber dieser Gedanke durchfuhr mich nur eben und nur beim Anblick der Allererbärmlichsten.
    Fränzchen sprang irgendwo auf, auch ich fand Platz aufeinem Camion. Vor einem Dorf fuhr ein anderer Camion in meinen hinein, und ich mußte zu Fuß weiter. Ich verlor das Fränzchen für immer aus den Augen.
    Ich schlug mich wieder quer durch die Felder. Ich kam vor ein großes, abseitiges, noch immer bewohntes Bauernhaus. Ich bat um Essen und Trinken, zu meiner großen Verwunderung richtete mir die Frau einen Teller Suppe, Wein und Brot auf dem Gartentisch. Dabei erzählte sie, nach langem Familienzwist hätten auch sie gerade beschlossen, abzuziehen. Alles sei schon gepackt, man brauchte jetzt nur noch aufzuladen.
    Während ich aß und trank, surrten die Flieger ziemlich tief. Ich war zu müde, um den Kopf zu heben. Ich hörte auch, ziemlich nah, ein kurzes Maschinengewehrfeuer. Ich konnte mir keineswegs erklären, woher es kam, war auch zu erschöpft, um nachzudenken. Ich dachte nur, daß ich gewiß nachher auf den Camion dieser Leute aufspringen könnte. Man ließ schon den Motor an. Die Frau lief jetzt aufgeregt zwischen Camion und Haus hin und her. Man sah ihr an, wie leid es ihr tat, das schöne Haus zu verlassen. Wie alle Menschen in solchen Fällen packte sie rasch noch alles mögliche unnütze Zeug auf. Sie kam dann an meinen Tisch, zog meinen Teller weg, rief: »Fini!«
    Da sehe ich, wie ihr der Mund offen bleibt, sie glotzt über den
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