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Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
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zerbrochener Bauernwagen. Er gehörte vielleicht der Familie des toten Kindes. Die deutschen Soldaten sprangen hinzu, sie flickten die Räder, die Bauern lobten ihre Freundlichkeit. Auf einem Feldstein saß ein Bursche, so alt wie ich, er trug einen Mantel über den Resten von Uniform. Er weinte. Ich klopfte ihm im Vorübergehen auf die Schulter, ich sagte: »Das wird alles vorübergehn.« Er sagte: »Wir hätten den Ort gehalten; die Schweine gaben uns aber nur Munition für eine Stunde. Wir sind ja verraten worden.« Ich sagte: »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.«
    Ich ging weiter. Ich ging eines Sonntags früh nach Paris hinein. Die Hakenkreuzfahne wehte wirklich auf dem Hôtel de Ville. Sie spielten wirklich vor Notre-Dame den Hohenfriedberger Marsch. Ich wunderte mich und wunderte mich. Ich lief quer durch Paris. Und überall deutsche Autoparks, überall Hakenkreuze, mir war ganz hohl, ich fühlte schon gar kein Gefühl mehr.
    Ich grämte mich, daß all der Unfug aus meinem Volk gekommen war, das Unglück über die anderen Völker. Denn daß sie sprachen wie ich, daß sie pfiffen wie ich, daran war kein Zweifel. Als ich nach Clichy hinaufging, wo Binnets wohnten, meine alten Freunde, da fragte ich mich, ob Binnets wohl vernünftig genug seien, um zu begreifen, daß ich zwar ein Mensch dieses Volkes sei, doch immer noch ich. Ich fragte mich, ob sie mich ohne Papiere aufnehmen würden.
    Sie nahmen mich auf. Sie waren vernünftig. Wie hatte ich mich doch früher oft über ihre Vernunft geärgert! Ich war der Freund der Yvonne Binnet gewesen, sechs Monate lang vor dem Krieg. Sie war erst siebzehn Jahre alt. Und ich, ich Narr, der ich aus der Heimat entflohen war, entflohen dem ganzen Wust, den üblen Schwaden dicker Gefühle, ich ärgerte mich im stillen oft über die klare Vernunft der Familie Binnet. Für mein Gefühl sah dieganze Familie das Leben zu vernünftig an. Sie fanden zum Beispiel in ihrer Vernunft, man streike, damit man die nächste Woche ein besseres Stück Fleisch kaufen könnte. Sie fanden sogar, wenn man täglich drei Francs mehr verdiene, dann fühle sich die ganze Familie nicht nur satter, sondern auch stärker und glücklicher. Und Yvonne glaubte in ihrer Vernunft, die Liebe sei dazu da, um uns beiden Spaß zu machen. Mir aber, was ich natürlich verbarg, mir saß es doch zu sehr in den Knochen, daß Liebe manchmal auf Leid reimt, daß man kleine Liedchen pfeifen muß, von Tod, Trennung und Ungemach, daß einen das Glück auch grundlos überfallen kann wie die Trauer, in die es zuweilen unmerklich übergeht.
    Jetzt aber erwies sich die klare Vernunft der Familie Binnet für mich als ein Segen. Sie freuten sich, nahmen mich auf. Sie verwechselten mich auch nicht mit den Nazis, weil ich ein Deutscher war. Die alten Binnets waren daheim, auch der jüngste Sohn, der noch nicht Soldat war, und der zweite, der die Uniform rechtzeitig abgelegt hatte, als er sah, wie die Dinge standen. Nur der Mann der Tochter Annette war in deutscher Gefangenschaft. Sie wohnte jetzt mit dem Kind bei den Eltern. Meine Yvonne, erzählten sie mir verlegen, war nach dem Süden evakuiert, wo sie vor einer Woche ihren Vetter geheiratet hatte. Mir machte das aber gar nichts aus. Ich war von Kopf bis Fuß nicht auf Liebe eingestellt.
    Die Männer Binnet waren immer daheim, ihre Fabrik war geschlossen. Und ich, ich besaß überhaupt nichts als Zeit. Wir hatten also nichts anderes zu tun, als uns alles zu erklären, von morgens bis abends. Wir waren uns völlig einig darüber, wie sehr der Einmarsch der Deutschen den hiesigen Herren zupaß kam. Der alte Binnet verstand verschiedenes besser als ein Professor von der Sorbonne. Nur über Rußland bekamen wir Streit. Die Hälfte der Binnets behauptete, Rußland denke bloß an sich selbst, es habe uns im Stich gelassen. Die andere Hälfte der Binnets behauptete, die hiesigen und die deutschen Herrenhätten ausgemacht, sie sollten ihr Heer zuerst auf die Russen werfen statt auf den Westen, das eben habe Rußland vereitelt. Der alte Binnet sagte, um uns alle zu befrieden, die Wahrheit komme schon mal ans Licht, die Dossiers würden sicher schon mal geöffnet werden, er aber sei dann schon tot.
    Bitte verzeihen Sie diese Abschweifung! Wir stehen dicht vor der Hauptsache. Annette, die ältere Tochter Binnets, bekam eine Heimarbeit. Ich hatte nichts Besseres zu tun, ich half ihr das Wäschepaket tragen. Wir fuhren mit der Metro ins Quartier Latin. Wir stiegen Station Odéon aus.
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