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Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
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Gartenzaun, ich drehe mich um, und ich sah, nein, ich hörte, ich weiß nicht, ob ich zuerst gesehen oder gehört oder beides zugleich – wahrscheinlich hatte der angelassene Camion das Geräusch der Motorradfahrer übertönt. Jetzt hielten zwei hinter dem Zaun, jeder hatte zwei Leute im Beisitz, und sie trugen die grüngrauen Uniformen. Einer sagte so laut auf deutsch, daß ich es hören konnte: »Himmel, Arsch und Zwirn, jetzt ist auch der neue Riemen kaputt!«
    Die Deutschen waren schon da! Sie hatten mich überholt. Ich weiß nicht, was ich mir unter der Ankunft der Deutschen vorgestellt hatte: Donner und Erdbeben. Esgeschah aber zunächst gar nichts anderes als die Anfahrt von zwei Motorrädern hinter dem Gartenzaun. Die Wirkung war ebenso groß, vielleicht noch größer. Ich saß gelähmt. Mein Hemd war im Nu patschnaß. Was ich selbst bei der Flucht aus dem ersten Lager nicht gespürt hatte, selbst beim Ausladen unter den Fliegern nicht, das spürte ich jetzt. Zum erstenmal in meinem Leben spürte ich Todesangst.
    Haben Sie bitte Geduld mit mir! Ich werde bald auf die Hauptsache kommen. Sie verstehen vielleicht. Einmal muß man ja jemand alles der Reihe nach erzählen. Ich kann mir heute selbst nicht mehr erklären, wie ich mich dermaßen fürchtete. Entdeckt zu werden? An die Wand gestellt? Auf den Docks hätte ich ebenso sang- und klanglos verschwinden können. Nach Deutschland zurückgeschickt zu werden? Langsam zu Tode gequält? Das hatte mir auch geblüht, als ich über den Rhein geschwommen war. Ich hatte außerdem immer gern auf der Kante gelebt, war immer daheim, wo es brenzlig roch. Und wie ich nachdachte, vor was ich mich eigentlich maßlos fürchtete, fürchtete ich mich schon etwas weniger.
    Ich tat zugleich das Vernünftigste und das Einfältigste: ich blieb sitzen. Ich hatte gerade zwei Löcher in meinen Gürtel bohren wollen, das tat ich jetzt. Der Bauer kam mit leerem Gesicht in den Garten, er sagte zu seiner Frau: »Jetzt können wir also genauso gut bleiben.« – »Natürlich«, sagte die Frau erleichtert, »aber du geh in die Scheune, ich werde mit ihnen fertig, sie werden mich nicht fressen.« – »Mich auch nicht«, sagte der Mann, »ich bin kein Soldat, ich zeig ihnen meinen Klumpfuß.«
    Inzwischen war eine ganze Kolonne auf dem Grasplatz hinter dem Zaun vorgefahren. Sie kamen nicht einmal in den Garten. Sie fuhren nach drei Minuten weiter. Zum erstenmal seit vier Jahren hörte ich wieder deutsche Befehle. Oh, wie sie knarrten! Es hätte nicht viel gefehlt, ich selbst wäre aufgesprungen und hätte strammgestanden.Ich hörte später, dieselbe Motorradkolonne habe die Flüchtlingsstraße abgeschnitten, auf der ich vorhin gekommen war. All die Ordnung, all die Befehle hätten das furchtbarste Durcheinander bewirkt, Blut, Schreie von Müttern, die Auflösung unserer Weltordnung. Doch surrte im Unterton dieser Befehle etwas gemein Klares, niederträchtig Aufrichtiges: Gebt nur nicht an! Wenn eure Welt schon zugrunde gehen muß, wenn ihr sie schon nicht verteidigt habt, wenn ihr schon zulaßt, daß man sie auflöst, dann keine Flausen, dann schleunigst, dann überlaßt das Kommando uns!
    Ich aber wurde plötzlich ganz ruhig. Da sitze ich nun, dachte ich, und die Deutschen ziehen an mir vorbei und besetzen Frankreich. Aber Frankreich war schon oft besetzt – alle haben wieder abziehn müssen. Frankreich war schon oft verkauft und verraten, und auch ihr, meine grüngrauen Jungens, wart schon oft verkauft und verraten. Meine Angst war völlig verflogen, das Hakenkreuz war mir ein Spuk, ich sah die mächtigsten Heere der Welt hinter meinem Gartenzaun aufmarschieren und abziehn, ich sah die frechsten Reiche zerfallen und junge und kühne sich aufrichten, ich sah die Herren der Welt hochkommen und verwesen. Nur ich hatte unermeßlich viel Zeit zu leben.
    Jedenfalls war jetzt mein Traum zu Ende, über die Loire zu kommen. Ich beschloß, nach Paris zu gehen. Ich kannte dort ein paar ordentliche Leute, falls sie ordentlich geblieben waren.
III
    Ich zog nach Paris in fünf Tagesmärschen. Die deutschen Kolonnen fuhren neben mir her. Der Gummi ihrer Reifen war vorzüglich, die jungen Soldaten waren Elite, stark und hübsch, sie hatten kampflos ein Land besetzt, sie waren lustig. Schon lachten einzelne Bauern hinter der Straße – gesät worden war noch auf freiem Boden. DieGlocken läuteten in einem Dorf für ein totes Kind. Es war auf der Straße verblutet. An einer Wegkreuzung stand ein
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