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Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
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sein Bleiberecht kämpfen will, wäre ohne diese Begegnungen nicht möglich gewesen. Im Gespräch breiten andere abenteuerliche, dramatische, absonderliche und verzweifelte Lebensgeschichten vor ihm aus. Der Erzähler vergleicht seine eigene Geschichte mit denen, die ihm berichtet werden, und lernt daraus. In solchen Gesprächssituationen – die sich in der Transit-Welt, wo die Zeit stillzustehen und nur aus Warten zu bestehen scheint, zahlreich ergeben – wird aus dem Erzähler ein neugieriger, mitleidiger, tröstender und anteilnehmender Zuhörer, der es dem anderen ermöglicht, sich erzählend frei zu machen von dem, was ihn bedrückt und umtreibt, das Erlebte zu bewältigen und abzuschließen – und vor allem: in einer Geste der Solidarität die Einsamkeit zu überwinden.
    In der Hinterlassenschaft des Schriftstellers Weidel, der sich beim Eimarsch der Wehrmacht in Paris das Leben nahm, fand der Erzähler ein unfertig gebliebenes Manuskript, das er in einer Situation tödlicher Langeweile zu lesen begann. Sogleich vergaß er seine schwierige Lage, vergaß alles um sich herum und war verzaubert . Mit dem Klang seiner Muttersprache wurden Kindheit und Heimat in seiner Erinnerung lebendig. Aus Weidels Text erschloß sich dem Erzähler eine neue Welt, in der er sich wiederfand. Sein Urteil als Leser, daß der Mann, der dasgeschrieben hat […], seine Kunst verstanden habe, gründete sich darauf, daß die ganzen Verwicklungen und Vertracktheiten der Figuren in der erzählten Geschichte durch Komposition und Schreibweise durchschaubar und verstehbar wurden: Ich begriff ihre Handlungen, weil ich sie endlich einmal verfolgen konnte von dem ersten Gedanken ab bis zu dem Punkt, wo alles kam, wie es kommen mußte.
    Nach und nach trägt der Erzähler einzelne Mosaiksteinchen zusammen, anhand derer er die Lebensgeschichte Weidels zu begreifen vermag. Seine Frau hat ihn verlassen, sein Verleger will seine Geschichten nicht mehr drucken, Mitemigranten, darunter auch die Schriftstellerkollegen Strobel und Achselroth, haben ihn im Stich gelassen, als er sich auf sie verließ. Weidel ist der Typ des linksintellektuellen Schriftstellers, der sich schreibend auch politisch engagierte; aufgrund einer Geschichte, in der er Partei ergriff für die Republikaner, wurde ihm das Transitvisum für Spanien verweigert. Weidel ist der Schriftsteller, der nicht mehr in der Lage war, die Zeit der Krise und der Kriege zu ertragen, geschweige denn sie zu gestalten. Solches Scheitern ist nicht allein Ausdruck subjektiven Unvermögens; ein Mitemigrant erklärt Weidels desolate Lage so: … weil ihn alles im Stich ließ, seine Freunde, die Frau, die Zeit selbst . Dann fährt er fort: Denn wissen Sie, er ist ja nicht der Mann, um solche Dinge erst noch zu kämpfen. Das lohnt sich ihm nicht. Er hat um Besseres gekämpft. […] Um jeden Satz, um jedes Wort seiner Muttersprache, damit seine kleinen, manchmal ein wenig verrückten Geschichten so fein wurden und so einfach, daß jeder sich an ihnen freuen konnte, ein Kind und ein ausgewachsener Mann. Heißt das nicht auch, etwas für sein Volk tun? Auch wenn er zeitweilig, von den Seinen getrennt, in diesem Kampf unterliegt, seine Schuld ist das nicht. Er zieht sich zurück mit seinen Geschichten, die warten können wie er, zehn Jahre, hundert Jahre.
    Von Weidel, dessen Schicksal den Erzähler mit Anteilnahme und dessen Werk ihn mit Faszination und Respekt erfüllte, unterscheidet der Erzähler deutlich distanziert jene Schreibenden, die mit [ihm] in einem Lager steckten, die mit [ihm] flohen, für die sind plötzlich die furchtbarsten und die seltsamsten Strecken unseres Lebens bloß durchlebt, um darüber zu schreiben: das Lager, der Krieg, die Flucht . Noch deutlicher wird die spontane Abneigung des Erzählers spürbar bei einer Begegnung mit dem Schriftsteller Strobel, der berichtet, er habe ein Spezialvisum für besonders gefährdete Leute für die USA erhalten. Auf die Frage des Erzählers, ob er denn vielleicht noch auf eine andere, seltsamere Art gefährdet sei als wir alle auf diesem gefährlich gewordenen Erdteil , reagiert Strobel ärgerlich: er habe schließlich ein Buch gegen Hitler geschrieben, unzählige Artikel . Diese eitle Wichtigtuerei läßt den Erzähler kalt, er denkt vielmehr an seinen Freund Heinz, der von den Nazis halbtot geschlagen worden war im Jahr 1935, der dann im deutschen Konzentrationslager gesessen hatte, dann nach Paris geflohen war, nur um nach Spanien zu den
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