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Transit

Transit

Titel: Transit
Autoren: Anna Seghers
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alles ernst bedacht: Vergangenheit und Zukunft, einander gleich und ebenbürtig an Undurchsichtigkeit, und auch an den Zustand, den man auf Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart. Und das Ergebnis: nur eine Ahnung – wenn diese Ahnung verdient ein Ergebnis genannt zu werden – von meiner eigenen Unversehrbarkeit.
VIII
    Ich stand auf, müde, mit schweren Knien, ich ging in die Rue de la Providence, legte mich auf mein Bett und rauchte. Doch ich wurde unruhig und ging in die Stadt zurück. Die Menschen um mich herum schwatzten unaufhörlich von der »Montreal«, die heute abfuhr, wahrscheinlich das letzte Schiff. Doch plötzlich, am frühen Nachmittag, hörte alles Gerede auf. Die »Montreal«, sicher, war ausgelaufen. Da warf sich denn alles Gerede auf das nächste Schiff, das jetzt das letzte war.
    Ich ging zurück in den Mont Vertoux, ich setzte mich aus alter Gewohnheit mit dem Gesicht zur Tür. Mein Herz, als ob es noch nicht die Leere verstanden hätte, die ihm von nun ab beschieden war, fuhr fort, zu warten. Es wartete immer noch weiter, Marie könnte zurückkehren. Nicht jene, die ich zuletzt gekannt hatte, an einen Toten geknüpft, und nur an ihn, sondern jene, die damals zum erstenmal der Mistral zu mir hereinwehte, mit einem jähen und unverständlichen Glück mein junges Leben bedrohend.
    Da faßte mich jemand an der Schulter, der dicke Musiker, Achselroths Freund, mit dem er schon einmal bis Kuba gekommen war. Er sagte: »Er hat jetzt auch mich im Stich gelassen.« – »Wer?« – »Achselroth. Ich war so töricht, die Partitur abzuschließen. Jetzt braucht er mich nicht mehr. Doch hätte ich mir nie träumen lassen, daß er das auch mit mir fertigbrächte, sang- und klanglos abzuziehen. Ich hing an ihm, wissen Sie, noch aus der Kindheit her, er hatte, ich kann nicht sagen wodurch, Macht über mich.« Er setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und brütete vor sich hin. Er wachte erst auf, als ihm der Kellner den Fine zwischen die Ellenbogen pflanzte.
    »Wie das zuging? Er hatte ja wohl einen Haufen Geld. Da zahlte er ein bei allen Schiffahrtsgesellschaften in der Stadt, er schmierte sich ganze Garden Beamte und Angestellte, er legte sich eine lückenlose Sammlung von Visenan und eine ebenso lückenlose Sammlung von Transits. Das nennt man Voraussicht. Zwar hatte er mir fest versprochen, mich mitzunehmen, doch mir fällt jetzt ein, er hat auch einmal die Behauptung aufgestellt, man solle sich hüten, den gleichen Reisebegleiter für zwei Reisen zu benutzen, besonders wenn schon einmal eine Reise so schiefging wie unsere. Es hat wohl irgend jemand sein Billett noch zurückgegeben auf der Martinique-Linie, das fiel ihm dann zu. Er fährt mit der ›Montreal‹.«
    Ich brachte durchaus nicht den Grad von Erstaunen auf, zu dem ich das Anrecht gehabt hätte. Ich sagte nur, da mir kein anderer Trost in den Sinn kam: »Was grämen Sie sich? Sie sind ihn los. Sie sagen ja selbst, er hatte von früher her Macht über Sie, aus der Kinderzeit. Das sind Sie nun endlich alles los.«
    »Was soll aber jetzt aus mir werden? Die Deutschen können schon morgen die Rhonemündung besetzen. Ich aber, ich könnte bestenfalls erst in drei Monaten abfahren. Bis dahin kann ich zugrunde gerichtet sein, deportiert, in ein Lager verschleppt, ein Häufchen Asche in einer zerschossenen Stadt.« Ich tröstete diesen Mann: »Das kann einem jeden von uns zustoßen. Sie bleiben ja schließlich nicht allein.« So einfältig meine Worte waren, er horchte auf. Er sah sich um.
    Ich glaube wirklich, er hat sich damals zum erstenmal umgesehen. Zum erstenmal nahm er wahr, daß da von Alleinsein die Rede nicht sein konnte. Er horchte zum erstenmal auf den uralten frischen Chor von Stimmen, die uns bis zum Grab beratschlagen, beschwatzen, beschimpfen, verspotten, belehren, trösten, aber am meisten trösten. Er sah auch zum erstenmal das Wasser und die Lichter der Anlegestelle, die aber noch schwächer waren als der Abendglanz in den Fenstern. Er sah das alles zum erstenmal an als das, was ihn nie im Stich lassen würde. Er atmete auf.
    »Der Achselroth hat sich vielleicht besonders beeilt, weil er erfuhr, daß die junge Frau auf dem Schiff ist, dieihm in der letzten Zeit von weitem gefiel. Weidels Frau. Denn Weidel, das wissen Sie ja, fährt nicht mit.«
    Ich nahm mich zusammen, bevor ich antwortete: »Noch einer, der nicht mitfährt! Wieso aber wissen Sie davon?«
    »Man weiß es«, sagte er gleichgültig.
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