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Transfer

Transfer

Titel: Transfer
Autoren: Stanislaw Lem
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Steinfeld schwarze riesige Felsbrok-ken. Ich hielt mit klopfendem Herzen inne und schaute in Richtung Stadt. Sie war durch den Hang verdeckt, nur die rötlich durchlichtete Dunkelheit verriet ihre Lage im Tal. Ich ging noch ein paar Schritte und setzte mich dann auf einen sattelförmigen Brocken. Auf ihm lag etwas Schnee, der angeweht worden war. Jetzt sah ich nicht einmal die letzten Lichtspuren der Stadt. Vor mir stiegen in der Dunkelheit die Berge auf, gespenstisch, mit schneegekrönten Gipfeln.
    Als ich aufmerksam den rechten Horizont betrachtete, sah ich einen Streifen ersten Tageslichts, der die Sterne verwischte - den Anfang eines neuen Morgens. Darin zeichnete sich der steile, in der Mitte geborstene Felsgrat ab. Und dann geschah plötzlich etwas mit meiner Reglosigkeit, die gestaltlose äußere Dunkelheit
    - oder die, die in mir war? - fing an, ihren Platz zu wechseln, hinabzugleiten, ihre Proportionen zu verändern. Ich war davon so benommen, daß ich einen Augenblick lang fast das Augenlicht verlor, und als ich es wiedererlangte, sah ich alles ganz anders.
    Der Himmel graute im Osten schwach über dem völlig dunklen Tal, vertiefte auch das Schwarz des Felsenarms, ich konnte aber blindlings auf jede seiner Unebenheiten, jede Lücke weisen, wußte schon, was für ein Bild der Tag mir enthüllen würde, denn dieses Bild war für immer und nicht umsonst in mir selbst eingezeichnet. Das war der unveränderte Besitz, den ich so herbeigesehnt hatte, der unangetastet geblieben war, während meine ganze Welt in der anderthalb Jahrhunderte alten Zeitschlucht zerfallen und verschwunden war:
    Hier, in diesem Tal, hatte ich meine Jugendjahre verbracht - in der alten, hölzernen Herberge auf dem gegenüberliegenden,
    grasbewachsenen Hang des Wolkenfängers. Von dem alten Bau war sicher nicht ein einziger Stein des Unterbaues mehr geblie -ben, die letzten Balken waren schon längst Staub geworden - und der Felsrücken stand trotzdem da, unverändert, als hätte er auf diese Begegnung gewartet. Hatte mich eine unklare, unbewußte Erinnerung in der Nacht gerade hierhergeführt?
    Der Schock des Wiedererkennens setzte sofort meine ganze Schwäche frei, die ich so verzweifelt erst mit der vorgetäuschten Ruhe und dann mit der beabsichtigten zähen Klettertour maskiert hatte. Blindlings tastete ich zum Boden, schämte mich meiner zitternden Finger nicht und legte mir Schnee in den Mund, der auf der Zunge kalt auftaute, den Durst nicht löschte, nur meine Nüchternheit vergrößerte. So saß ich da, aß Schnee und traute der Sache immer noch nicht ganz, wartete noch auf die Bestätigung meiner Gedanken durch die ersten Sonnenstrahlen. Lange vor dem Sonnenaufgang flog von der Höhe, von den langsam schwindenden Sternen ein Vogel herunter, legte seine Flügel zusammen, wurde kleiner, setzte sich auf einen vorhängenden Felsbrocken und fing dann an, mir näherzurücken. Er hüpfte um mich herum und entfernte sich wieder, und als ich schon dachte, daß er mich nicht bemerkt hätte, kam er von der anderen Seite wieder um den Felsen, auf dem ich saß, herumgehüpft. Und so sahen wir uns eine Zeitlang an, bis ich halblaut sagte: »Ja, wo kommst du denn her?«
    Ich merkte, daß er vor mir keine Angst hatte, und fing wieder an, Schnee zu essen. Er senkte das Köpfchen, schaute mich mit den schwarzen Perlen seiner Augen an, plötzlich aber, als’ hätte er mich lange genug angesehen, breitete er seine Flügel aus und flog davon. Ich aber, an die rauhe Felswand gelehnt, geduckt, mit vom Schnee ganz kalten Händen, wartete auf das Morgengrauen, und diese ganze Nacht kehrte in heftigen, unvollendeten Kurzbildern wieder: Thurber, seine Worte, dieses Schweigen zwischen mir und Olaf, die Stadtansicht, der rote Nebel und Offnungen in diesem Nebel, von Lichtkegeln gebildet, heiße Luftströmungen, das Ein- und Ausatmen eines Zersetzungsvorgangs von Millionen, die hängenden Alleen und Plätze, die Kelchbauten mit flammenden Flügeln, die Farben, die auf verschiedenen Ebenen dominierten.., meine Frage an den Vogel auf dem Bergpaß, auch die Tatsache, wie gierig ich den Schnee verschlang- und alle diese Bilder waren sie selber und waren es zugleich auch wieder nicht,
    so wie es manchmal im Traum geschieht. Sie waren eine Erinnerung und eine Verfehlung der Dinge, die anzurühren ich mich nicht traute, weil ich die ganze Zeit hindurch versuchte, in mir selbst eine Zustimmung für das zu finden, dem ich nicht zustimmen konnte.
    Alles das hatte es
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