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Träum süß, kleine Schwester

Träum süß, kleine Schwester

Titel: Träum süß, kleine Schwester
Autoren: Mary Higgins Clark
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Kaffeetassen standen noch auf dem Tisch, die Stühle zurückgeschoben, wie sie sie hinterlassen hatten. Mike schnürte es die Kehle zu. Das laute Prasseln von Kohle ebbte ab. Die Kohle. Vielleicht. Er nahm zwei Stufen auf einmal. Kohlenstaub wogte durch den Keller. Im Verschlag türmten sich blanke schwarze Eierbriketts. Er hörte das Fenster zuschnappen. Er starrte hinunter auf die Fußspuren am Boden. Die Abdrücke von seinen Turnschuhen. Daneben die anderen, die er und Laurie morgens mit ihren Hausschuhen hinterlassen hatten.
    Und dann sah er, Schritt für Schritt, den Abdruck von Lauries bloßen Füßen, die Abdrücke dieser hochgewölbten, schlanken, zartknochigen Füße. Bis zum Bretterverschlag. Keinerlei Anzeichen, daß sie zur Treppe zurückgekehrt war.
    Es läutete, das schrille, hohe, beharrliche Klingeln, das ihn immer geärgert und seine Großmutter amüsiert hatte.
    Mike raste die Treppe hinauf. Laurie … Laß es Laurie sein
    …
    Der Fahrer des Lieferwagens mit einer Rechnung in der Hand. »Quittieren Sie bitte den Empfang, Sir.«
    Die Kohlenlieferung. Mike packte den Mann am Arm.
    »Haben Sie in den Verschlag geschaut, bevor Sie die Kohlen runterschütteten?«
    Blaßblaue Augen in einem freundlichen, vom Wetter gegerbten Gesicht musterten ihn mit offenem, wenn auch etwas verdutztem Blick. »Na klar hab’ ich reingeschaut, um mich zu vergewissern, wieviel Sie brauchen. Das bißchen, was noch da war, hätte Ihnen nicht mal für den ganzen Tag gereicht. Der Regen hat ja aufgehört, aber es bleibt weiter ganz schön kalt.«
    Mike bemühte sich, ruhig zu klingen. »Hätten Sie’s gesehen, wenn jemand in dem Verschlag gewesen wäre?
    Ich meine, es ist doch ziemlich dunkel im Keller. Hätten Sie’s bemerkt, wenn da drin eine schlanke junge Frau vielleicht ohnmächtig geworden wäre?« Er konnte die Gedanken des Mannes lesen. Er hält mich für betrunken oder drogensüchtig.
    »Verflucht!« schrie Mike. »Meine Frau ist verschwunden. Meine Frau ist spurlos verschwunden!«
    Die Suche nach Laurie ging über Tage. Mike beteiligte sich fieberhaft daran. Er durchkämmte jeden Zentimeter der dichtbewaldeten Umgebung des Hauses. Er kauerte zitternd auf Deck, als sie den See absuchten. Er stand mißtrauisch dabei, als die gerade gelieferten Kohlen aus dem Verschlag auf den Kellerboden geschaufelt wurden.
    Umringt von Polizisten, deren Namen und Gesichter spurlos an ihm vorüberglitten, sprach er mit Lauries Arzt.
    Ungläubig, fast tonlos berichtete er ihm von Lauries Angst vor den Stimmen im Kohlenkeller. Als er geendet hatte, unterhielt sich der Polizeichef mit dem Arzt. Er legte auf, packte Mike bei der Schulter. »Wir suchen weiter.«
    Vier Tage später fand ein Taucher Lauries Leiche im See. Tod durch Ertrinken. Sie war im Nachthemd. An der Haut und im Haar hingen noch Reste von Kohlenstaub.
    Der Polizeichef bemühte sich vergebens, die unbegreifliche Tragik dieses Todes zu mildern. »Deshalb endeten die Fußspuren am Verschlag Sie muß hineingeraten und aus dem Fenster geklettert sein. Es ist ziemlich breit, und sie war schlank. Ich hab’ noch mal mit ihrem Arzt gesprochen. Vermutlich hätte sie schon früher Selbstmord begangen, wenn Sie nicht dagewesen wären.
    Furchtbar, was Menschen ihren Kindern antun. Ihr Arzt sagte, ihre Großmutter hat sie mit blödsinnigen Ammenmärchen von klein auf so traktiert, daß sie vor Angst wie gelähmt war.«
    »Sie hat darüber mit mir gesprochen. Sie wollte es schaffen.« Mike hörte sich protestieren, hörte sich die Vorkehrungen für Lauries Einäscherung treffen.
    Als er am nächsten Morgen seine Sachen packte, kam die Immobilienmaklerin vorbei, eine praktisch gekleidete weißhaarige Frau mit magerem Gesicht, die das Mitgefühl in ihren Augen auch nicht hinter einem betont energischen Auftreten verstecken konnte. »Wir haben einen Käufer für das Haus«, sagte sie. »Ich werde veranlassen, daß Ihnen alles, was Sie behalten wollen, zugeschickt wird.«
    Die Uhr. Die antiken Tische. Die Bilder, über die Laurie gelacht hatte, samt den wunderschönen Rahmen. Mike versuchte sich auszumalen, allein ihre Mansarde in Greenwich Village zu betreten, und konnte es nicht.
    »Was ist mit dem Grammophon?« fragte die Maklerin.
    »Eine echte Rarität.«
    Mike hatte es in den Wandschrank zurückgestellt. Jetzt holte er es heraus, hatte Lauries Schrecken wieder vor Augen, hörte sie ›Chinatown‹ intonieren, sich mit den Falsettstimmen auf der alten Platte vereinen. »Ich weiß
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