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Träum süß, kleine Schwester

Träum süß, kleine Schwester

Titel: Träum süß, kleine Schwester
Autoren: Mary Higgins Clark
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den See gleiten ließ.
    Es war Ende Juni, hätte aber genausogut Anfang März sein können. Dem Radio zufolge dauerte der Kälteeinbruch in Wisconsin seit drei Tagen an.
    Hoffentlich ist genügend Kohle da, um die Heizung in Gang zu halten, dachte Mike, andernfalls verliert diese Maklerin den Auftrag.
    Er mußte Laurie wecken. Sie auch nur für eine Minute allein im Wagen zu lassen, wäre schlimmer.
    »Wir sind da, Liebes«, sagte er, seine Stimme täuschte Heiterkeit vor.
    Laurie regte sich. Er fühlte, wie sie sich versteifte, dann entspannte, als er sie fest in die Arme schloß.
    »Es ist so dunkel«, flüsterte sie.
    »Wir gehen rein und machen Licht.«
    Er erinnerte sich an den ständigen Ärger mit dem Schloß. Man mußte die Tür kräftig anziehen, bevor man den Schlüssel herumdrehen konnte. In einer Steckdose in der kleinen Diele war eine Nachtbeleuchtung angeschlossen. Das Haus war zwar nicht warm, aber auch nicht so eiskalt, wie er befürchtet hatte.
    Rasch knipste Mike das Licht im Flur an. Die Tapete mit den Efeuranken wirkte verblichen und verschmutzt. Das Haus war in den fünf Sommern, die seine Großmutter im Pflegeheim verbrachte, vermietet worden. Mike erinnerte sich, wie sauber und warm und anheimelnd es war, solange sie hier wohnte.
    Lauries Schweigen war vielsagend. Den Arm um sie gelegt, führte er sie ins Wohnzimmer. Die samtbezogenen Polstermöbel, in denen er es sich mit einem Buch bequem zu machen pflegte, standen noch auf ihrem Platz, wirkten aber, wie die Tapete, schmuddelig und schäbig.
    Mike runzelte besorgt die Stirn. »Tut mir leid, Schatz.
    War eine Schnapsidee, hierherzukommen. Möchtest du in ein Motel gehen? Wir sind an zwei recht ordentlich aussehenden vorbeigefahren.«
    Laurie lächelte ihn an. »Ich möchte hierbleiben, Mike.
    Ich möchte, daß du mich an all den wunderbaren Sommern teilhaben läßt, die du hier verbracht hast. Ich möchte deine Großmutter als meine reklamieren. Dann komme ich vielleicht über all das hinweg, was mit mir geschieht.«
    Laurie war von ihrer Großmutter erzogen worden, die an schwerer Angstneurose litt. Sie hatte versucht, Laurie Angst vor der Dunkelheit einzuflößen, Angst vor Fremden, Angst vor Flugzeugen und Autos, Angst vor Tieren. Als Laurie und Mike sich vor zwei Jahren kennenlernten, hatte sie ihn schockiert und amüsiert mit der Litanei haarsträubender Geschichten, die ihre Großmutter ihr tagtäglich vorgesetzt hatte.
    »Wie hast du dich nur so normal entwickelt, so heiter und vergnügt?« fragte Mike sie dann jedesmal.
    »Hätte ich mich von ihr irrenhausreif machen lassen, wär’s aus und vorbei gewesen mit mir.« Doch die letzten vier Monate hatten gezeigt, daß Laurie letztlich nicht ohne psychischen Schaden davongekommen war, der geheilt werden mußte.
    Jetzt lächelte Mike ihr zu, betrachtete liebevoll die leuchtenden meergrünen Augen, die dichten dunklen Wimpern, die Schatten warfen auf ihre porzellanweiße Haut, die kastanienbraunen Locken, die das ovale Gesicht anmutig umrahmten.
    »Du bist so verdammt hübsch«, sagte er, »und natürlich erzähl’ ich dir alles über Großmama. Du kanntest sie ja nur, als sie schon krank und gebrechlich war. Ich werde dir Geschichten auftischen von unserem gemeinsamen Angeln bei Sturm, vom Joggen rund um den See und wie sie mich da angebrüllt hat, Schritt zu halten, vom Wettschwimmen, bei dem ich sie mit sechzig zum erstenmal schlagen konnte.«
    Laurie nahm sein Gesicht in die Hände. »Hilf mir, so zu sein wie sie.«
    Gemeinsam brachten sie die Koffer und die Lebensmittel herein, die sie unterwegs gekauft hatten. Mike ging in den Keller hinunter. Er schnitt eine Grimasse, als er einen Blick in den 1,20 in breiten und 1,80 in langen Bretterverschlag neben dem Heizkessel warf, in dem die Kohlen lagerten; er befand sich direkt unter dem Fenster, das beim Entladen des Kippers für die Rutsche geöffnet wurde. Mike erinnerte sich, wie er als Achtjähriger seiner Großmutter geholfen hatte, einige Bretter des Verschlages zu ersetzen. Jetzt wirkten sie durchweg morsch.
    »Auch im Sommer wird es nachts manchmal kalt, aber wir werden’s immer hübsch warm haben, Mike«, sagte seine Großmutter oft, wenn er ihr helfen durfte, Kohlen in den alten, schwarz gewordenen Heizkessel zu schaufeln.
    Mike entsann sich noch genau, daß sich die blanken schwarzen Eierbriketts früher immer zu Bergen türmten.
    Jetzt war der Verschlag fast leer. Der Vorrat reichte gerade noch für zwei bis drei Tage. Er
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