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totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)

totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)

Titel: totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
Autoren: Minck
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Ich nahm alles nur noch durch einen schlierigen Nebel wahr. Der Abgabetermin stand direkt vor meiner Nase. Ich konnte nicht mehr wegsehen, also wurde ich blind. Ich hatte als Ausweichmanöver schon diverse Anrufe der Redaktion nicht beantwortet und den Anrufbeantworter abgestellt. Als ich am frühen Morgen des 11. Juni 2001, nach einer durchwachten Nacht am Schreibtisch, komplett groggy in die Küche wankte, gab es einfach kein Zurück mehr. Der Gülleeimer kam geflogen, und ich musste mich ducken. Ich rief den verantwortlichen Redakteur an, legte meinen Kopf auf den Holzblock und beichtete, was das Zeug hielt. Ich sah es direkt vor mir, wie sich mit jedem meiner Sätze am anderen Ende der Leitung sein Gehirn immer mehr aufblähte. Was er mir sagte, konnte ich hinterher nicht mehr wiederholen. Ich erinnere mich, dass jedes seiner Worte klang wie dieses leichte Zischschsch, wenn der Großmeister das Samurai-Schwert durch die Luft wirbeln lässt. Nicht nur würde ich zukünftig guten Gewissens kein Projekt mehr annehmen können – nein, ich würde noch nicht mal mehr jemandem absagen müssen, weil mir niemand mehr ein Projekt anbieten würde. Und zwar von dieser Sekunde an.
    Meine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich zu hundert Prozent. Die Geschichte, dass ich einen Tatort versägt hatte, war schneller als der Schall in der Branche verbreitet worden. Ich hatte es wirklich komplett und final vermasselt. Würde mir jetzt bitte ein mitfühlender Freund mit einem Samurai-Schwert aus zwölffach gefälteltem Damaszenerstahl den Kopf abschlagen, damit ich nicht so lange leiden muss?
    Ein paar Wochen lang hoffte ich, dass sich das Martyrium wieder legen würde. Ein paar Tage Urlaub, dachte ich – ich hatte wirklich zu viel gearbeitet, und das seit Jahren – und ich wäre wieder wie neu. Ich war schon insofern neu, als ich nichts mehr schreiben konnte. Noch mal neu oder besser gesagt auf den alten Zustand zurück, ging aber irgendwie nicht mehr. Um zu dieser tiefschürfenden Erkenntnis zu gelangen, gab ich für drei Wochen Flucht nach Paradise Island, Karibik, 7000 Mark aus. Zugegeben, das war ein spaßiger Urlaub unter Palmen. Alles, aber auch wirklich alles entsprach sowohl sämtlichen Karibik-Klischees als auch den Angaben im Reisekatalog. Aber kaum hatte der Flieger in Düsseldorf wieder aufgesetzt, wusste ich, dass dieser Luxus, den ich mir da gegönnt hatte, alles andere als hilfreich gewesen war. Kaum hatte das Flugzeug die Landebahn auch nur mit einem Gummireifen berührt, explodierte mein Kopf regelrecht vor schlechter Laune, Melancholie und Depression. Vergessen war das Schwimmen mit Delphinen und Rochen und die Fressorgien ohne Reue am Pool mit Sonnenuntergang und die Bootsausflüge mit dem Speedboot zu Gilligans Island.
    Wie meine Oma selig immer schon gesagt hat: Man nimmt sich beim Reisen leider immer selber mit. Meine Freundin Wilma, Friseurmeisterin von Gottes Gnaden, empfahl mir, die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch zu nehmen. Hatte ich denn wirklich so schrecklich ausgesehen, als sie mich am Flughafen abgeholt hatte? Muss wohl. Wilmas Kommentar war: »Der braungebrannteste Zombie aller Zeiten.«
    Meines Erachtens aber brauchte ich entschieden keinen Therapeuten – ich brauchte Geld. Ich wurde sowieso schon täglich ärmer, warum sollte ich dann noch jemanden mit meinem Elend reich machen? Was hätte mir ein Seelenklempner schon sagen können, das ich nicht sowieso schon wusste? Meine Diagnose lautete: Burnout-Syndrom. Wilma aber versuchte mich davon zu überzeugen, dass es nicht reicht zu wissen, was man hat. Man müsse schließlich auch wissen, wie man das wieder loswird. Und um das zu wissen, hätten die Therapeuten doch jahrelang studiert. Sie war überzeugt davon, dass vor allem eine »post-Beziehungsende-bedingte« Depression nicht mehr und nicht weniger war als eine Geschlechtskrankheit und somit innerhalb von drei bis acht Tagen mit den richtigen Mitteln bekämpft werden konnte. Na und? Das Einzige, was ich mir demnächst noch würde leisten können, wären gnädigerweise täglich auftretende narkoleptische Anfälle. Dann könnte ich den mir ins Haus stehenden Hunger einfach überschlafen. Meinetwegen prä- oder post-was-auch-immer-bedingt, Hauptsache bewusstlos.
    Narkoleptische Anfälle bekam ich leider nicht, dafür erhöhte ich die Dosis der Spaghettirationen. Nudeln machen glücklich, egal ob prä- oder post-.
    Jetzt allerdings, im Kellergeschoss meiner alten Heimatstadt Bochum
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