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Totenwall

Titel: Totenwall
Autoren: Boris Meyn
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Aber eine nochmalige Hochzeit kam für Rosa nicht in Frage. Nicht, solange die Kinder noch nicht flügge seien, wie sie betonte. Danach könne man sehen. Wenn sich dann noch jemand für den Drachen interessiere. Trotz ihrer einfach gestrickten Art hatten ihre Äußerungen nichts Vulgäres. Es schien, als versuche sie, ihrem Schicksal mit Humor zu trotzen.
    Danach beherrschte politischer Gesprächsstoff die Runde. Aber nicht Parteipolitik, wie Sören befürchtet hatte, sondern Themen von internationalem Belang. Man diskutierte über die Kretafrage und was mit der muslimischen Minderheit auf der Insel geschehen solle, nachdem die Union mit Griechenland angestrebt worden war. Von hier aus ging es zur Entwicklung in Persien und der seit fünf Jahren dauernden konstitutionellen Revolution und ihren Folgen. Sören hatte nichts dazu beizutragen. Er langweilte sich. Insgeheim fragte er sich, ob es denn überhaupt etwas zu feiern gebe oder ob das nur ein Vorwand von David gewesen war, um sie hier in diese Runde zu locken. Aber er musste zugeben, die Erscheinung von Liane Kronau, egal, ob sie ihre zukünftige Schwiegertochter werden würde oder nicht, faszinierte ihn, und allein sie lohnte den Abend.
    Auch Liane war während der politischen Diskussion eher zurückhaltend, wobei «Diskussion» das falsche Wort war, da sich alle Anwesenden einig zu sein schienen und die Themen dementsprechend schnell fallengelassen wurden. Den Paradiesvogel gab sie allerdings nur aufgrund ihrer äußeren Erscheinung. Was sie beschäftigte und worüber sie sprach, waren eher die Belanglosigkeiten, die der Alltag mit sich brachte. Erst als sie von der weiblichen Leiche berichtete, die man unweit ihrer Wohnstätte in einem Bahndamm entdeckt hatte, erwachte Sören aus seiner Lethargie.
    «Da gruselt’s einen schon. Auch ich bin ja zeitweise berufsbedingt zur dunklen Tageszeit auf der Straße, und mir begegnen manchmal unheimliche Typen. Im nächsten Monat habe ich eine Statistenrolle bei den Indianertänzen im Hagenbeck’schen Tierpark in Stellingen. Die Vorführungen finden bis in die Dämmerung statt – und bis ich dann in Barmbeck bin, ist es stockfinster. Ich kann mir nicht jeden Tag eine Droschke leisten.»
    David legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. «Ich denke, ich werde dich nach jeder Vorstellung abholen und begleiten müssen.» Er fing an, diabolisch zu grinsen, als wäre er vom Wahnsinn heimgesucht worden. Dann fuhr seine Hand ihren Hals entlang. «Ich überlege schon, auf welcher Höhe ich dir den Kopf abschneiden werde …»
    «Lass das!» Sie schob ihn beiseite. Die anderen konnten ihr Lachen nur schwer zurückhalten. «Sie war nackt und ohne Kopf. Ich konnte den Menschenauflauf von meinem Fenster aus beobachten. Ich habe mich gar nicht auf die Straße getraut.»
    «Weiß man denn schon Näheres?», fragte Sören interessiert.
    «In der Nachbarschaft munkelte man etwas von einer jungen Frau. Warum hat man ihr bloß den Kopf abgetrennt?»
    «Dafür kann es mehrere Gründe geben», mischte sich Erwin ein. «Entweder man wollte verhindern, dass die Identität der Person bekannt wird, oder aber sie ist einem Pygmäen zum Opfer gefallen …»
    «Aber der hätte den Rest des Körpers verspeist und den Kopf übrig gelassen», entgegnete Mathilda.
    Sören wusste nicht, ob sie diese Äußerung wirklich ernst meinte. Es klang mehr amüsiert als besserwisserisch.
    «Ich meine so einen rituellen Mord. Es soll ja so Verrückte geben», korrigierte Erwin.
    «Wo wir bei so blutrünstigen Dingen sind, kann ich dann ja auch den farblich passenden Nachtisch auftragen», bemerkte Rosa und stellte eine Schüssel mit roter Grütze auf den Tisch. «Dazu gibt’s natürlich …»
    «Vanillesauce!», antworteten David und Erwin im Chor.
    «Selbst gemacht?»
    «Nein.» Rosa schüttelte den Kopf.
    «Von Dr. Oetker!»
, stimmten David und sein Freund ein, als wenn es einstudiert wäre.
    Als der Nachtisch verspeist war, kam David endlich zur Sache. Bevor er begann, stellte Rosa mehrere Gläser auf den Tisch. Die Zeit des Schaumweins schien gekommen. «Wir … also Erwin und ich … haben letzte Woche einen Verein gegründet», verkündete er stolz. «Den Fußballclub St. Pauli. Offiziell handelt es sich dabei um die Spiel- und Sportabteilung des Hamburg-St. Pauli Turnvereins, aber das soll die Sache nicht schmälern. Und darauf wollen wir mit euch anstoßen!»
    «Na, herzlichen Glückwunsch», gratulierte Sören etwas gedämpft und hob sein
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