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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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Füße zur Treppe, rannte die Tribüne hinauf. Der Fahrstuhl – wo? Niemand zu sehen. Doch, zwei Polizisten, die sich an der Garderobe langweilten.
    »Helfen Sie mir!«, flehte ich sie an. »Ich muss in vier Minuten am Reichstagsufer sein, Ecke Wilhelmstraße. Bitte. Es geht um Leben und Tod.«
    Die Polizisten blieben cool.
    »Juri Katzenjacob ist dort! Ich weiß es. Ich muss … ihn … stoppen!«
    Der Name scheuchte die Polizisten auf. Der eine nahm sein Funkgerät und rief den Einsatzleiter. Der andere war mutiger. Er rannte mit mir die Treppen hinunter, dann hinaus ins Gegatter der Absperrungen. Er kannte sich wenigstens aus im Labyrinth. Wir rannten die Rampe vor dem Reichstag hinunter und nach rechts am Parlamentsgebäude entlang, welches das Spreeufer abriegelte. Dort auf der Uferpromenade standen Menschen dicht an dicht. Wir mussten uns durchkämpfen. Eine Rauchsäule fast am andern Ende der Promenade wies uns den Weg und hielt meine Hoffnung am Leben.
    Zum Schluss boxten wir uns durch, denn die Menschen hatten sich rings um die Stelle verdichtet, wo es rauchte.
    Flammen züngelten auf dem Steinboden. Juri Katzenjacob war gerade noch zu erkennen in den Rauchschwaden, die der Wind gen Osten zog. Er stand da, groß, breitschultrig, trotzig und hustend. Finley hatte uns erklärt, dass der Rauch ihn binnen dreißig Sekunden einhüllen würde. Solange sollte Juri die Luft anhalten. Sobald er nichts mehr sah, sollte er dem Leitfaden zur Treppe folgen und ins Wasser steigen, wo er von Tauchern empfangen und mit Sauerstoff versorgt werden würde. So ganz schien es nicht zu klappen.
    Ich sah Finley. Er stand im Kreis der Zuschauer und knetete sich das Kinn. Ein Polizeiwagen hielt auf der nahen Brücke. Beamte stiegen aus und begannen sich den Weg zu bahnen. Einer hatte einen Feuerlöscher in der Hand. Sie würden dem pyrotechnischen Spuk ein Ende bereiten, wenn Richard sie nicht stoppte. Wo war er überhaupt?
    Jemand erkannte mich und rief: »Das ist die aus der Zeitung!«
    Ich trat vor und auf Juri zu, streckte die Hand aus und schrie ihn an: »Verschwinde!«
    Da explodierten zu seinen Füßen die letzten Substanzen, der Rauch wurde schwarz und undurchdringlich. Juri war nicht mehr zu sehen. Ein Raunen ging durch die Menge. Es war der Moment, wo im Bundestag auch der Adler zum Stillstand kam.
    Im Augenwinkel sah ich den Polizisten, der mich hergebracht hatte, vortreten. In diesem Augenblick stand Richard plötzlich im Kreis, den die Menge bildete. Er steckte das Handy in die Tasche seines cognacfarbenen Anzugs. Seine Augen waren schmal, das Kinn gesenkt.
    Eine halbe Sekunde stand er still.
    »Nein!«, schrie ich und wollte ihn packen.
    Aber da war er schon nicht mehr erreichbar. Zwei Schritte, ein Sprung, und er war in der Rauchsäule verschwunden.
    Ich hatte zu viel Schwung, stolperte und fiel den Schaulustigen vor die Füße.
    Ein Schrei ging durch die Menge.
    Ich rappelte mich hoch, ließ die Lederjacke von mir rutschen und stürzte mich in den Rauch. Zu spät. Ich bekam niemanden mehr zu fassen. Ungebremst prallte ich gegen das Geländer.
    Richard hatte es geschafft. Juri war zwar einen Kopf größer als er, jung und kräftig, aber gegen die äußerste Entschlossenheit des Älteren hatte er keine Chance gehabt, zumal er seinen Gegner auch nicht gesehen haben dürfte. Es musste die beiden direkt in die Spree katapultiert haben. Nein! Es geschah gerade!
    Ich hörte den satten Plumps einer schweren Masse, die auf der Wasserfläche aufschlug, fand die Stelle, wo das Tor zum Treppenabgang offen war, und sprang ins Leere.
    Für eine Sekunde sah ich Licht und im Augenwinkel ein Polizeiboot dümpeln. Dann knallte das Wasser mir eisig um die Ohren. Ich riss die Augen auf. Die hellen Fassaden der Häuser verwischten sich über mir in Wellen. Trübes Grün umhüllte mich.
    Und ich erkannte ein dunkles Gewurstel, das nach unten sank.
    Ich hasse Wasser, es ist mir zu träge, und man kann nicht atmen. Und ich bin keine geübte Schwimmerin, schon gar keine Taucherin. Aber man kann es sich eben manchmal nicht aussuchen.
    Ich kam irgendwie runter und sah die aufgerissenen Augen Juris, der sich zappelnd wie ein Käfer auf dem Rücken gegen das wehrte, was ihn hinunterzog. Ein nicht abzuschüttelndes Gewicht aus stahlharten Muskeln und Entschlossenheit. Richard hatte die Stirn zwischen Juris Schulterblätter gepresst, seine Arme über dessen Brust verschränkt und mit der einen die andere Hand umschlossen. Nicht zu öffnen. Blut
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