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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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meine Gedanken dem sanften Wellengang des Nichts anheimzugeben.
    Bundestagspräsident Lammert sprach von seinem Präsidiumspult herab: »Unser heutiges Verständnis der Grundrechte ist geprägt von der Aufklärung, der wir nicht nur die Herausforderung des Glaubens durch die Vernunft verdanken, sondern auch die Trennung von Kirche und Staat, die zu den unaufgebbaren Fortschritten unserer Zivilisation gehört.«
    Dann wollte der Sechzehnte der Gesegneten, an pastorale Erhabenheit gewöhnt, den Parlamentspräsidentenstand von Lammert stürmen und musste ans Rednerpult der Abgeordneten degradiert werden. Darüber lachte man nicht. Ich aber doch, wenn auch nach innen.
    Mit Gelächter vertreibt man den Spuk, hatte Finley mir erklärt. Richard hatte uns dazu die Geschichte von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, erzählt.
    Da stand der alte Mann in Weiß nun am Pult unter dem Bundesadler, schaute uns aus seinen bläulichen Augenhöhlen heraus mit diesem schüchternen und, wie Richard gefunden hatte, zugleich etwas eitlen Lächeln an und jonglierte mit Worten wie Naturrecht und Positivismus, ohne den Atem dafür zu haben. Gern hätte ich Richard neben mir gehabt, damit er dagegenklügelte.
    »Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt«, sagte mit alterssteifer Zunge der Redner, »dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen.«
    Noch eine Minute. Inzwischen hatten Finleys Helfer draußen hinterm Parlamentsgebäude an der Stelle, wo sich Juri im Feuer verzehren würde, aus ihren Jacken kreisförmig Substanzen rieseln lassen, die bunt verbrennen und Geländer und Treppe zum Wasser hinunter in dichten Rauch hüllen würden. Auf dem Display meines Handys, das ich stumm geschaltet hatte, erschien verabredungsgemäß Richards Anruf. Er ließ es nur einmal klingeln.
    Ich schaute hoch zum Adler. Mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck lösten sich die beiden Seilzüge, und der von mir aus gesehen rechte Flügel gab um ein erstes Grad nach. Dafür war eine Winde verantwortlich, die sich ab jetzt automatisch abspulte. Der Vorgang sollte genau zwölf Minuten dauern.
    »Auch der Mensch hat eine Natur«, behauptete Benedikt, »die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.«
    »Der Adler bewegt sich«, raunte ich meiner Nachbarin zu. »Sehen Sie das auch? Er hängt schief.«
    Sie schaute, dann sagte sie zu ihrem Mann: »Der Adler hängt schief, siehst du das? Der senkt sich rechts ab!«
    Die Bewegung war so langsam wie die Bewegung des Mondes am Himmel. Man musste einmal weg- und dann wieder hinschauen.
    »Der Adler!«, raunte es von mir weg und die Tribüne hinauf. Die Welle kam bei den Kameraleuten an. Eine Kamera schwenkte nach oben. »Der Adler, der Adler!«, rief jemand. »Er fällt!«
    Von den Abgeordneten hatte längst auch der eine oder andere seinen Augen nicht getraut. Jetzt wachten sie auf. Inzwischen hatte das Viech deutlich Schlagseite.
    Zeit für mich. Ich stand auf und streckte einen Arm nach vorn. Deshalb kann ich heute sagen, ich gehöre zu den Auserwählten, die vom Heiligen Vater direkt angeschaut und wahrgenommen worden sind. Auch wenn der halbe Plenarsaal zwischen uns lag, ich begegnete seinem Blick aus dunklen Höhlen. Er war vorgewarnt und dennoch überrascht. Zumal er sich nicht umgedreht hatte und nicht wusste, was sich hinter ihm ereignete. Er hob seinerseits den Arm und segnete mich.
    »Danke, alter Knabe!«, dachte ich. »Wär aber nicht nötig gewesen.« Störte fast. Katholisches Gedankengut ist Zweifelgut, es nagt an meiner gewissenlosen Einigkeit mit mir selbst. Verstehst du, Heiliger Vater, ich habe einfach zu viel Sex!
    Zum Glück musste ich nicht wirklich telekinesen.
    Schon eilten Lammert und Saaldiener nach vorn, um Seine Heiligkeit vom Rednerpult zu holen. Lammert fasste ihn sogar am Ellbogen, was die Heiligkeit sich mit einem ungeduldigen Ruck verbat.
    »Juri Katzenjacob! Das ist Katzenjacob!«, hörte ich es nun um mich herum raunen. »Er hat einen Anschlag angekündigt. Er soll in Berlin sein!«
    »Und wer ist das?
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