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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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cremefarbenem Papier und hatte ein Wasserzeichen.
    Der Brief war nicht so gefaltet, wie ich es vom Bescheid des Finanzamts kannte oder von Rechnungen, nämlich so, dass die Adresse im Umschlagfenster erschien und die Anrede im oberen Drittel sichtbar war. Hier war vielmehr das obere Drittel ebenfalls nach vorn gefaltet, so dass sich der Inhalt so lange verbarg, bis ich das Blatt auseinandergefaltet, ja im Grunde entrollt hatte.
    »Meine liebe Lisa …«
    Eine neue Tachykardie nahm mir den Atem.
    Kurze Pause. So was kann man doch nicht lesen! Wie stellte er sich das vor! Dass ich den ersten Brief, den ich jemals in meinem Leben von ihm bekommen hatte, gerührt las, nachdem ich soeben erfahren hatte, dass er gerade kalt und mit Laken über dem Gesicht von einem Praktikanten in den Keller des Krankenhauses gefahren wurde. Wie denkst du dir das, Richard?
    Doch das Blatt schummelte sich vor meine Augen. Und die lasen. Und das Gehirn lauschte mit halbem Ohr, fand es so schrecklich nicht, fokussierte sich, wollte es verstehen.
    Ich fing noch mal von vorn an.
    »Meine liebe Lisa, ich fürchte, es wird dir sehr schwerfallen, meine Entscheidung zu akzeptieren. Im umgekehrten Fall wäre ich dir ewig böse. Mir ist bewusst, dass ich dich vorher ins Vertrauen hätte ziehen müssen, aber ich musste davon ausgehen, dass du alles getan hättest, um meinen Plan zu vereiteln. Ich zumindest hätte es getan. Ich hätte dich im Hotelzimmer eingesperrt, in Ketten gelegt und sediert.«
    Ich musste schmunzeln. Ich hätte es so gemacht, aber er nicht. Er hätte mich in Polizeigewahrsam nehmen lassen.
    »Wir kennen uns jetzt seit dreizehn Jahren …«
    So lange schon. Ja, Zahlen, die waren seine Freunde.
    »Und ich bin dir bis heute dankbar, dass du mich gepackt und in dein Leben gezogen hast. Ich weiß, wie sehr du es hasst, wenn Männer einsame Entscheidungen treffen. Es tut mir leid. Ich kann nicht anders. Ich höre dich sagen: Es geht immer anders. Aber ich habe deinen Optimismus nicht, deine Zuversicht …«
    Es war mir neu, dass ich so was hatte.
    »Mir ist mein ohnehin nicht sonderlich starker Glaube an die Vernunft der Menschen in den letzten Monaten vollständig abhandengekommen. Ich sehe voraus, dass eine Geiselbefreiung blutig ausgeht und viele Menschenleben fordert. Andererseits ist die Forderung der Geiselnehmer leicht zu erfüllen. Zudem wäre ein böser Spuk ein für alle Mal beendet. Liebe Lisa, bitte glaub jetzt nicht, dass es mir leichtfällt, mich von dir zu trennen. Im Grunde ist es meine eigene Feigheit, dass ich dir nicht sage, was ich vorhabe. Ich weiß, ich würde den Abschied nicht ertragen, wenn ich ihn von dir mit Gewalt nehmen müsste.
    Damit ist nicht alles gesagt. Es ist eigentlich fast nichts gesagt. Ich kann nur hoffen, dass du dein Herz der Zwiesprache mit der Erinnerung nicht verschließt. Ich habe nicht jede Sekunde mit dir genossen, aber dich jede geliebt.«
    Nein, lügen erlaubte er sich nicht. Nicht einmal jetzt.
    »Ich weiß, dass du mich gern deinen Lebensabschnittsirrtum nennst, aber ich weiß auch, dass du deinen Irrtum nicht bereust. Bitte verzeih mir! Es wäre meinen 69 Gramm Seele eine Beruhigung. In ewiger Liebe, R .«
    Die Buchstaben verschwammen stellenweise vor meinen Augen. Seltsam. Dann erkannte ich, dass der Brief mit Tinte geschrieben war. Und Tinte zerfließt, wenn sie nass wird.
    Keine Ahnung, wie lange ich so saß. Die Zeit hatte eine Lücke. Ich war erst wieder da, als Derya sich neben mich setzte, die Hände auf meinen Unterarm legte und sagte: »Komm! Die Ärztin will mit dir sprechen.«
    Finley drehte sich um.
    Ich sprang auf. »Lebt er? Oder ist er tot?«
    Ein Bett, ausgerüstet mit Tropfgalgen, kam hinten um die Ecke. Ein Pfleger schob es, eine Ärztin ging nebenher. Ich lief los. Es hätte auch ein Irrtum sein können. Aber es war keiner.
    Richard öffnete die milchkaffeebraunen Augen und griff im selben Moment nach meiner Hand. Er lächelte.
    *
    Die Leiche Juri Katzenjacobs wurde übrigens nie gefunden. Heute glaube ich, dass die Taucher ihn, wie verabredet, tief unten im Wasser abgefangen und weggeschafft haben. Jetzt lebt er mit neuer Identität irgendwo in einer großen Stadt. Vielleicht in Ihrer Nachbarschaft. So ein blonder Kerl mit niederschmetternder Ausstrahlung, bei dem man unweigerlich an November und den eigenen Tod denkt.
    Also passen Sie auf sich auf!

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