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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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Schifffahrtskanal. Es hat seine eigenen Tore und besteht aus starren alten Klinkerbauten mit Erkern und Türmen an breiten Straßen. Ich erwartete Pest, Lepra und Lazarett, gestärkte Schwesternschürzen und Häubchen, aber es war dann doch bloß ein Krankenhaus.
    »Herr Dr. Weber?« Die Frau an der Information runzelte hinterm Flachbildschirm die Stirn. »Den habe ich hier nicht.«
    Was? Schon in der Leichenkammer? Die Knie versagten mir.
    Finley übernahm für mich. Mit britischer Geduld, aber hochgezogenen Augenbrauen zwang er die Frau zu telefonieren und bekam heraus, dass Richard sich im CBF , im Campus Benjamin Franklin, befand: Herz, Kreislauf und Lunge.
    »Lebt er noch?«, fragte ich.
    »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, sagte die Frau.
    Die Taxifahrerin, die uns zum Hindenburgdamm brachte, erzählte uns, dass der Bundesadler während der Papstrede beinahe abgestürzt wäre. Sie sei ja an sich Protestantin, der Papst sei ihr an sich egal, aber ein Anschlag bei uns in Deutschland, das gehe natürlich gar nicht. Jetzt werde gesagt, das sei wieder der Katzenjacob gewesen, er habe ja so was angekündigt. Aber dann sei diese Nerz aufgestanden und habe einen Gegenzauber gesprochen. Sie habe es vorhin im Fernsehen gesehen.
    Ich passte auf, dass sie mich nicht im Rückspiegel sehen konnte.
    »Und gleichzeitig, heißt es«, redete sie gegen unser Schweigen an, »ist sie an der Stelle erschienen, wo der Katzenjacob gestanden hat. Und ein Feuer hat ihn verschlungen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie haben es im Fernsehen gezeigt. Einer hat sogar noch versucht, den Katzenjacob zu retten. Heutzutage kannst du ja nirgendwo mehr hin, ohne dass dich einer filmt und in Youtube stellt. Der hat sich richtiggehend ins Feuer gestürzt! Mitten hinein. Verstehen Sie das? Da versucht der doch wirklich, dieses perverse Schwein zu retten. Es ist der Staatsanwalt, heißt es, der in der Talkshow aufgetreten ist. Der immer gesagt hat, der Juri sei kein Mörder. Gibt sein Leben für so einen! Nichts wie Angst und Schrecken hat der verbreitet. Verstehen Sie das?«
    Trotz der Schockblase, in der ich durch Berlin rollte, dankte ich der narrativen Kraft, der immensen Fähigkeit des Menschen, nur das zu sehen, was er erwartet.
    Im CBF fand die Frau am Empfang Richards Namen sofort. Finley nahm den Zettel mit der Abteilung in Empfang und führte und fragte uns durch die Gänge, bis uns eine Pflegerin stoppte und bat, uns in eine Ecke mit Grünzeug zu setzen und zu warten.
    Wie lange? Dazu könne sie nichts sagen. Wie es stehe? »Sind Sie mit ihm verwandt, seine Frau? Dann kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.«
    »Ich bin seine Lebensgefährtin!«
    »Tja, er wird wohl gerade operiert, aber …«
    »Wieso operieren sie ihn?«
    Dazu konnte die Pflegerin wirklich nichts sagen. Sie versprach, der Stationsärztin Bescheid zu geben.
    »Vielleicht hat er sich was gebrochen beim Sturz die Treppe hinunter«, überlegte Derya.
    Es klang, als könne er damit nicht mehr den Süßwassertod sterben.
    »Nun setz dich mal hin, Lisa! Und ich schaue, ob ich irgendwo einen Kaffee bekomme.« Sie ging.
    »Er wird es schaffen«, sagte Finley zum wiederholten Mal und setzte sich neben mich. »Er … er hat Juri nicht retten wollen, nicht wahr, Lisa?« Finley gab sich selbst die Antwort, schüttelte den Kopf und lachte erstaunt. »Nein, natürlich nicht. Warum auch. Das wäre ja Blödsinn gewesen. Er wollte ihn …« Seine blauen Augen standen teichgroß vor meinem Blick.
    Ich nickte und legte den Finger auf die Lippen.
    Der Schotte nickte bedächtig, dann stand er auf, schlenkerte seine Kamelbeine ans Fenster und blieb dort mit auf dem Steiß ineinandergelegten Händen stehen.
    Ich stand ebenfalls auf, setzte mich wieder, lehnte mich an, beugte mich vor, streckte die Beine. Es nützte alles nichts. Schließlich langte ich in meine Jackentasche und zog den Umschlag mit meinem Namen darauf hervor. Es war einer von der länglichen Sorte, fein gerippt, cremefarben, aus schwerem Papier und fühlbar gefüttert. In meiner Jugend hatte meine Mutter so etwas handgeschöpftes Büttenpapier genannt. Das nahm man nur für Briefe, die was hermachen mussten: Gratulationen, Todesanzeigen.
    Ich schlitzte ihn mit dem Finger auf. Mir klopfte das Herz, die Luft blieb mir weg. Ich musste erst einmal eine Pause machen. Ausatmen, einatmen. Dann reichte die Kraft wieder. Ich zog das gefaltete Blatt aus dem Umschlag. Es war ebenfalls aus dickem, leicht geripptem
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