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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt
Autoren: Brian Hodge
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halber Strecke das Hemd aus und wischte sich damit den Schweiß aus dem Gesicht.
    Die Büßer schritten den Weg ruhig ab, jeder Schritt vom Dorf weg war ein weiterer in Richtung der Herrlichkeit. Christophe erklärte ihm, dass er nur zu dieser Zeit so viele unterschiedliche Haitianer an einem Ort antreffen konnte: junge und alte, reiche und arme, Mulatten-Elitisten und pechschwarze Bauern, Prostituierte und Nonnen. So wie an diesem Ort würde sich ihr Innerstes an keinem anderen gleichen.
    Er hörte ihn, bevor er sich dessen überhaupt bewusst wurde, es war ein sanftes Zischen, nichts weiter. Mit jedem Schritt wurde es lauter, bis er wusste, dass der Wasserfall in der Nähe war. Der Klang selbst stärkte die Entschlossenheit, gab den vom Aufstieg und der stickigen morgendlichen Hitze müden Beinen neue Kraft.
    Als sie endlich ankamen, war selbst die Luft erfüllt vom Tosen des Wassers, und er konnte sehen, Justin wusste, dass Christophe recht gehabt hatte. Sein erster Blick sollte am Tag erfolgen, denn die Schönheit von Saut d’Eau überwältigte den Neuankömmling wie eine Offenbarung der Götter.
    Sie sahen von oben darauf herab, und er breitete sich vor ihnen in einem Panorama aus, das so alt wie die Schöpfung war und so frisch wie der Morgen. Dieses Heiligtum war eine grüne Kathedrale aus hohen Bäumen, der kein von Menschen geschaffenes Gebäude gleichkommen konnte. Der Fluss teilte sich in drei einzelne Wasserfälle, die dreißig Meter in die Tiefe auf Kalkstein stürzten, der so abgenutzt war, dass er müden Schultern glich, und die donnernde Gischt erzeugte einen Nebel mit immerwährendem perlmuttartigen Schillern. Die Luft hier oben war sehr viel kühler als auf dem Weg hierher, denn das gewölbte Basin lag im Schatten eines gewaltigen Blätterdaches, das so gut wie kein Sonnenlicht hindurchließ.
    Hier lebten die Geister, warum sollten sie es auch nicht? Für Haitianer waren sie alle nichts weiter als ein einziger Ausdruck eines alles umfassenden Gottes.
    Und überall – in den ruhigen Teichen, unter dem reinigenden Wasser der Fälle oder mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Boden stehend – sah er die glatte schwarze Haut der Pilger.
    Er war der einzige Weiße unter Hunderten von Schwarzen. In der letzten Nacht in Port-au-Prince hatten ihn Fremde angesehen, als er vorbeifuhr, ein Blanc, dessen Grund für sein Hiersein sie nie erfahren würden. Aber hier schien das keine Bedeutung zu haben. Vielleicht war das eine Frage der Zugehörigkeit. Hierher kam niemand versehentlich; sie wurden alle von der Notwendigkeit hergeführt.
    »Möchten Sie ein wenig warten, bevor wir weitergehen?«, fragte Christophe.
    Justin nickte. »Das wäre schön. Sehr sogar.«
    Sie setzten sich unter einen Gummibaum, von dem aus sie alles sehen konnten. Und sie sprachen, ohne ihre Stimme an das Wasser zu verlieren.
    Minutenlang hörte er einfach nur zu. Über den Fällen schien ein Teppich aus Gebeten zu schweben, wo die Pilger den Kopf hoben und mit ihren gequälten Seelen zu einem Himmel emporsahen, an dessen Gleichgültigkeit sie nicht glauben wollten. Sie riefen Worte empor, die sich zuweilen vermischten, dann wieder deutlich zu verstehen waren, alle mit einer derartigen emotionalen Intensität, dass es einem das Herz brechen konnte. Mildtätigkeit, Vergebung, all das wurde mit einer Aufrichtigkeit erfleht, die er verstand, auch wenn er die Worte nicht übersetzen konnte; und diese Stimmen, die auf der Straße noch überschwänglich geklungen hatten, stießen hier einen zornigen Wortschwall hervor.
    »Wofür beten sie?«, wollte Justin wissen.
    Christophe lächelte. »Für vieles. Eine gute Ernte. Eine bessere Gesundheit. Höhere Löhne. Dass sie die vermissten Angehörigen wiedersehen, die die Regierung eingesperrt hat.« Er zeigte auf eine klagende junge Frau in einem zerlumpten orangefarbenen Kleid, die einige Meter entfernt auf den Knien lag und die Wurzeln eines gewaltigen Baumes umklammerte; in die Spalten seiner Borke waren Votivkerzen gepresst worden, die mit sanften, kleinen Flammen brannten. »Sehen Sie die Frau da vorn? Wenn ich es richtig verstanden habe, betet sie um ein weiteres Baby, das den Platz des Kindes, das an Fieber gestorben ist, in ihrem Herzen einnehmen kann.«
    Justin wandte sich ab, er wollte einen Moment solch privater Verletzlichkeit nicht länger stören; er sollte ihr und ihrem Heiligen gehören. Allein.
    »Bevor ich hergekommen bin«, begann er, »hatte ich Angst, dass man mich hier …
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