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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt
Autoren: Brian Hodge
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zurückzukehren.«
    Little Haiti in Miami hatte sich nicht als das gelobte Land erwiesen. Nicht alle durften bleiben, da sie nicht zur Zufriedenheit der INS beweisen konnten, dass sie sich seit 1982 im Land aufhielten. Die wichtigste Waffe in den Händen derer, die es konnten, war ein Foto, das eine der Frauen kurz nach ihrer Ankunft vor Mullaveys Haus gemacht hatte. Andrew Jackson Mullavey und einige seiner Neuanschaffungen vor einem Hintergrund, der zweifelsfrei als Twin Oaks identifiziert werden konnte. Und auf der Rückseite des Kodakpapiers befand sich ein einfacher Stempel des Fotolabors: MAR 82.
    Einige durften bleiben. Der Rest wurde deportiert.
    Seiner Meinung nach war Napolean freier als sie alle.
    »Die Heiligkeit bekommt ihm«, sagte Justin. »Das kann ich sehen.«
    »Sie würde Ihnen auch gut stehen.« Christophe sagte dies mit einer unheilvollen Gewissheit. »Noch nicht. Also sollten sie sich wahrscheinlich nicht zu sehr anstrengen.«
    Justin sagte nichts, er schickte seine Gedanken zum Himmel und den Winden, ließ sie von allem, das einen Willen hatte, ergreifen: Dann gebt mir einen Grund.
    Es kam kein Blitz, kein Donner, auch keine Stimme aus den Wolken, und die Erde bebte nicht. Aber damit konnte er leben, und schließlich stand er auf.
    »Ich werde hineinspringen«, sagte er. »Kommen Sie mit?«
    »Noch nicht. Aber bald. Ich muss meine Gebete erst noch ordnen.«
    Justin zog die beiden Kerzen aus seiner Hemdtasche, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Sie waren weiß und unberührt, und er hatte in das Wachs jeder Kerze einen Namen geritzt, seinen und Aprils. Warum, wusste er nicht.
    Er ließ Christophe und sein Hemd zurück und ging zu dem großen Baum, vor dem sich zuvor die trauernde Mutter niedergeworfen hatte. Es war ein gigantischer Mapoubaum, ein heiliger Schrein, die Heimat der Geister, dessen Äste sich wie ein smaragdfarbener Himmel ausbreiteten. Er kniete sich zusammen mit anderen Bittstellern zwischen seine Wurzeln und zündete seine eigenen Kerzen an einer bereits brennenden an. Er erhitzte den weichen Boden mit der Flamme der jeweils anderen Kerze und drückte sie dann beide nebeneinander in eine leere Spalte in der Borke.
    Mit etwas Glück würden sie zusammen verbrennen, zusammen vergehen, und in diesen simplen Symbolen lebte die tiefgreifendste Hoffnung.
    Er ging zum Rand des Berghangs, unter dem das flüssige Herz des Saut d’Eau schlug, und fügte dem Chor der leidenschaftlichen Stimmen der Bauern seine eigene hinzu. Er hatte auf eine immense Eloquenz gehofft, die ihn überkommen würde, doch sie schwand einfach so und ließ nichts weiter zurück als einen Kern aus Not, der so tief reichte, dass er ohne ihn nicht existiert hätte.
    »Bitte!«, schrie er ins Tal hinab. »Bitte …«
    Das war alles, was er zu geben hatte, und wenn es ihm nicht gelungen war, seinen Fall mit der durchdringenden Beredsamkeit der Bauern vorzutragen, so sollte ein Gott mit wahrer Güte in seinem Herzen doch zumindest zur Kenntnis nehmen, dass es tief aus seinem Innersten gekommen war.
    Das rituelle Bad folgte dem Gebet, und er ging den Hang hinunter, um sich in der Nähe eines Felsvorsprungs einigen anderen anzuschließen. Er war bereits von der Gischt durchnässt, und alle Pilger, die dies wollten, entkleideten sich an dieser Stelle. Die meisten waren Frauen, einige sprangen voll bekleidet hinein, andere trugen billige Badeanzüge, und wieder andere stiegen barbusig und in Unterhose ins Wasser. Einige schlangen sich um die nassen Felsen, die Serpentinen, die Berge des Damballah-Wèdo.
    Er spürte keine Scham, Demut war eine Tugend, die er sich schon seit Langem nicht mehr leisten konnte. Er ließ seine Jeans auf dem Felsen zurück.
    Und sprang.
    Das Wasser war kalt, ein Schock an diesem Hochsommertag, und obwohl er es mit mehreren Dutzend anderen teilte, waren sie doch alle allein. Es verschluckte ihn völlig, er tauchte unter, war blind, taub, bis auf ein gedämpftes Tosen, und er sank hinunter, bis er den schlammigen Boden berührte. Würden die Götter ihn dann ebenfalls berühren? Er fühlte. Und fühlte.
    Und dann stieg er wieder auf, durchbrach die Wasseroberfläche, um nach Luft zu schnappen. Danach ließ er sich treiben, mit geschlossenen Augen, während die Fälle weitertosten und das Echo der Gebete durch sie hindurchhallte. Vielleicht würde er in einem Moment schon wissen, ob ihm tatsächlich eine Antwort zuteil wurde. Hier schien nichts mehr sicher zu sein.
    Er wusste nur, dass sie da
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