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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt
Autoren: Brian Hodge
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Er ließ sich von der Stadt verschlucken und ging in der angenehmen Anonymität auf.
    Der Mississippi lag nur wenige Blocks entfernt.
    Er wollte dort hingehen, sich an das Geländer einer Brücke lehnen, dem leisen Platschen der Wellen lauschen und die vorbeifahrenden Kähne anstarren, bis er vom Wind, der vom Wasser her wehte, völlig durchgefroren war.
    Wie schmal der Grad zwischen Lachen und Weinen doch manchmal war. Er überquerte ihn, als er noch vier Blocks zurücklegen musste.
    Natürlich konnte er ohne öffentlichen Totenschein nicht mit Sicherheit wissen, dass Mullavey wirklich tot war.
    Aber manchmal musste man einfach an etwas glauben.

35
S AUT D ’E AU
     
    Die Pilgertage im Mittsommer, wenn die Versprechen der Erneuerung selbst im verdorbendsten aller Länder auf offene Ohren stießen.
    Justins Flugzeug landete in der Abenddämmerung in Port-au-Prince, an einem Juliabend, an dem es gerade zu regnen begonnen hatte. Er war ein Fremder in einem fremden Land; hier war er in der Minderheit. Er hatte irgendwo gehört, dass es eine therapeutische Wirkung haben könne, sich von allem loszusagen, das den Hinter- und den Vordergrund eines Lebens ausmachte. Des Weiteren hatte er gehört, dass einige so verrückt geworden waren. Seiner Meinung nach hing alles davon ab, was man in seinem Innersten zu sehen bekam, wenn man nur genau genug hinsah.
    Christophe Granvier holte ihn am Flughafen ab, sie hatten sich seit Ende November nicht mehr gesehen, aber des Öfteren telefoniert. Christophe schien es als seine heilige Pflicht anzusehen, sich nach April zu erkundigen, wie es ihr ging, ob es Veränderungen gegeben hatte. Und vor fünf Monaten begann er, regelmäßig Schecks per Post zu schicken, einen pro Monat, die auf eine Bank auf den Bahamas ausgestellt waren. Es lag kein Begleitschreiben dabei, nur Christophes Unterschrift. Am Telefon fragte er nie danach; als wären derjenige, der anrief, und derjenige, der die Schecks ausstellte, zwei verschiedene Männer, die ihr Mitgefühl auf unterschiedliche Weise ausdrückten.
    Also löste Justin sie ein, er war sich nicht zu stolz dazu, und er erwähnte sie ebenfalls nicht; als sei sein Schweigen ein Teil des Abkommens.
    Auf diesem Flughafen voller bewaffneter Männer, die ihn mit Argwohn oder Abneigung betrachteten, umarmten sich Justin und Christophe mit einer Stärke, aus alter Trauer geboren, die bis zu diesem Moment nicht geteilt werden konnte, in dem ihre Augen Gefühle übermittelten, die ihre Stimmen niemals artikulieren konnten. Und der einzige Trost lag in den Armen des anderen.
    »Sie sehen gut aus«, sagte Justin.
    »Ich sehe lebendig aus.« Christophe, der nun einen Vollbart trug, grinste. »Das ist doch was.«
    Er führte Justin vom Terminal fort zu einem alten Jeep, der nach amerikanischen Standards schäbig und abgenutzt aussah, hier jedoch den Inbegriff von Wohlstand darstellte. Auf der Fahrt vom Flughafen sagten sie nur wenig. In diesem Land war die Geschichte deutlich zu spüren, wie eine Wunde, die nie vollständig heilen würde. Justin spürte sie in dem Moment, in dem sie den Flughafen verlassen hatten, in der Luft; da war eine Schwere, die abgesondert von der Feuchtigkeit existierte.
    Der Jeep erklomm auf seinem Weg die Hügel vor der Stadt. Die Straßen verliefen durch Slums, die schlimmer aussahen als alles, was er sich vorzustellen vermochte; er konnte sie nur ungläubig anstarren. Ganze Häuser, die aus Blech oder Sperrholz errichtet worden waren, oft derart überbevölkert, dass ganze Gruppen aus Freunden oder Familien im Stehen schlafen mussten, aneinandergelehnt wie Regalbretter an eine Wand. Sie fuhren durch einen üblen Geruch, der sich in dicken Wolken manifestierte … nach totem Fisch und Abwasser.
    Und doch fühlte sich der Ort lebendiger an als jeder andere, den er in Amerika jemals aufgesucht hatte. Die Bewohner hielten sich im Freien auf, spielten Karten oder Domino, tranken Tee oder aus Rumflaschen, während über allem der Geruch nach verbrannter Holzkohle und den gerade gekochten Mahlzeiten hing.
    »Kriegen Sie keine Panik, wenn Sie Schüsse hören«, sagte Christophe zu ihm. Er fuhr schnell, und sie standen beide kurz vor dem Schleudertrauma. »Sie schießen nicht auf uns.«
    »Höchstwahrscheinlich, wollen Sie wohl sagen?«
    »Nun«, erwiderte er und zuckte mit den Achseln, »welche Garantie haben wir schon?«
    Leben unter Diktatoren. Vielleicht stellte seine weiße Haut eine Art Schutzschild dar, ebenso wie sein Pass. Sie waren
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