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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt
Autoren: Brian Hodge
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momentan sehr versöhnlich, wenn es um Amerika ging, das bei der Amtsenthebung von Bertrand Aristide seine Hand im Spiel gehabt hatte. Sie wollten nur zu gern die Gunst der Vereinigten Staaten zurückgewinnen und ihre wirtschaftlichen Sanktionen loswerden. Ohne den ersten durch eine freie Wahl gewählten Präsidenten wieder einzusetzen.
    »Fahren wir heute Nacht noch hin?«, wollte Justin wissen.
    »Wir sollten lieber auf den Morgen warten. Jeder, der Saut d’Eau zum ersten Mal besucht, sollte den Ort bei Tageslicht sehen, damit er ihn schon beim ersten Blick wirklich sehen kann.«
    »Ist es da so schön?«
    »Sie werden es sehen. Vertrauen Sie mir.«
    Was natürlich der Fall war. Vertrauen war der eigentliche Grund für diese ganze Reise.
     
    Laut der Legende suchte am 16. Juli 1843 ein Mann namens Fortune in der Nähe des Bergdorfs mit dem Namen Ville Bonheur nach seinem entlaufenen Pferd. Er kam zu einem Palmhain und erblickte die Jungfrau Maria auf der Spitze einer Palme, wo sie von einem blendenden Licht umgeben war. An diesem Ort wurde ein Schrein errichtet, und die Kunde über Heilungen, Blinde, die wieder sehen, Taube, die wieder hören konnten, verbreitete sich. Die Erscheinung soll Jahrzehnte später verschwunden sein, als das Licht zu einer Taube wurde, die in den Nebel eines Wasserfalls in der Nähe flog, der am Ende des Flusses La Tombe lag und den Namen Saut d’Eau trug.
    Katholische Priester empfanden die erste Vision als Geschenk des Himmels, einen weiteren Keil, den sie zwischen die Haitianer und den Vodoun treiben konnten, den sie so sehr verabscheuten und als veraltet ansahen. Aber sie hätten sich kaum mehr irren können, denn die Bauern sahen die Jungfrau als Manifestation von Erzuli, der Göttin der Liebe. Bei jährlichen Pilgerfahrten erwiesen die Vodounisten den heiligen Wasserfällen ihre Ehrerbietung und beanspruchten den Geist als den ihren, bis die katholischen Konvertiten und die Vodounisten schließlich Seite an Seite herkamen und sich die Votivkerzen mit den Opfergaben aus geweihter Nahrung vermischten. Jahr um Jahr ging es so.
    Justin vermutete, dass es das war, was er an den Haitianern so sehr bewunderte, ihre Belastbarkeit unter Druck. Sie besaßen eine Stärke, die man nur selten fand. Wie viele einsame Nächte hatte er schon mit einem Buch verbracht, in dem er mehr über sie zu erfahren suchte und darüber, wie sie überlebt hatten.
    Wenn sie es konnten, konnte er es dann auch?
    Es wurde Zeit, diese Frage ein für alle Mal zu beantworten.
    Am Morgen nach seiner Ankunft verließen Justin und Christophe das kleine Haus am Berg, als die Sonne noch sehr tief stand. Sie fuhren weiter in die Berge hinein, auf sich windenden Straßen, deren Schlaglöcher den Jeep wie ein Spielzeug durchschüttelten, bis sie sich sechzig Meilen nördlich von Port-au-Prince befanden.
    Sie teilten sich die Straße und deren Furchen mit dem öffentlichen Nahverkehr der haitianischen Hauptstadt. Lkw und Busse, die Tap-Taps genannt wurden, schwankten, als ob ihre Fahrer besessen wären; sie waren in grellen Farben lackiert, die einen beinahe ebenso blind machten, wie ihre Hupen einen taub werden ließen. Sie waren im Namen der Hoffnung getauft worden und vollgepackt mit lautstarken Pilgern, die sich in einer Sprache unterhielten, die Justin nicht verstand, deren Freude aber nicht übersetzt werden musste.
    Die Sonne brannte mit einer unglaublichen Hitze vom Himmel herab, als sie in Ville Bonheur ankamen. Christophe parkte bei den Lkw und Tap-Taps, aus denen Hunderte von Adoranten quollen. Die Atmosphäre war gleichermaßen die eines heiligen Festes und einer Karnevalsveranstaltung. In Körben und auf Tischen hausierten Händler mit Wurzeln und Kräutern, Talismanen und Medaillons. Frauen mit hellen Kopftüchern hatten damit begonnen, große Töpfe mit Reis und Bohnen auf Kochstellen zu erhitzten.
    »Haben Sie etwas Wertvolles mitgebracht?«, fragte Christophe. »Geld, Ihre Brieftasche, irgendetwas?«
    Justin schüttelte den Kopf. »Die habe ich in Ihrem Haus gelassen. Ich habe nur die dabei.« Er zog zwei rechteckige Kerzen aus der Hemdtasche. »Das ist alles.«
    »Clever.« Christophe sicherte seinen Wagenschlüssel an einer Kette, die er sich um den Hals legte. »Taschendiebe«, erklärte er. »Es haben nicht alle heilige Gründe, aus denen sie hierherkommen.«
    Sie mischten sich in den stetigen Strom der Gläubigen, die den halbstündigen Aufstieg zu den Wasserfällen begannen. Justin zog sich etwa auf
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