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Totenreise

Totenreise

Titel: Totenreise
Autoren: David Lozano Garbala
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diese verworrenen Vorhersagen auch bedeuten mochten: Mindestens ebenso beschäftigte ihn der Gedanke an die noch immer offene Frage, die er Michelle gestellt hatte. Noch immer hatte er keine Antwort. Michelle. Groß, blond, glattes langes Haar, schlank mit vielversprechenden Rundungen … Sie war ein Jahr älter als Dominique und er, sechzehn, und besuchte die Premier, den ersten Abiturjahrgang an derselben Schule wie sie beide. Sie wohnte im Internat, da ihre Familie in einem Dorf ziemlich weit weg von Paris lebte, und sie gehörte zu den Freaks an der Schule, denn sie stand auf Gothic: Sie trug stets Schwarz und schminkte ihre Augen dunkel. Ihr gefiel alles, was mit Geistern zu tun hatte: Filme, Bücher, Videospiele … Und sie vertrat ihre Haltung ohne Kompromisse: Vor allem dies unterschied sie von ihm. Wenn Pascal sie beide mit einer Farbe darstellen würde, so stand ihrem unbedingten »Schwarz« das ihn so anzog, sein ebenso unbedingtes »Grau« gegenüber. Grau, die nichtssagende Farbe der Mittelmäßigkeit. Und trotzdem machte er sich Hoffnungen … Gleich würde er sie sehen.
    Es war Freitag. Pascal hatte sich für den Nachmittag mit ihr und Dominique verabredet, sie wollten sich an der Pyramide des Louvre treffen, inmitten der majestätischen Gebäude des berühmten Museums, um am Seine-Ufer spazieren zu gehen. Als er sie endlich durch einen der Zugänge von der Metro her auf den Platz kommen sah, erhob er sich und ging ihr entgegen. Sie war gekleidet wie immer: Mantel, Hose und Stiefel in Schwarz, die Augen mit einem Lidschatten geschminkt, der ihrem Gesicht einen teuflischen Ausdruck verlieh, absolut aufregend.
    »Was geht ab?«, fragte sie ein wenig befangen, als sie endlich vor ihm stand. Sie musterte ihn einen Moment und lächelte. »Ich weiß, du wartest auf was …«, sagte sie dann leise. »Aber ich kann dir noch nichts sagen. Schlimm?«
    »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Pascal, während er seinen iPod verstaute.
    Wieder lächelte sie.
    »Stimmt nicht. Aber trotzdem danke. Außerdem, wenn ich so drüber nachdenke, dann bedeutete es ja wohl etwas …«
    »Einverstanden, mehr musst du wirklich nicht sagen.« Er sah vor sich hin.
    Michelle biss sich auf die Unterlippe: »Egal, wie ich mich entscheide, es darf unsere Freundschaft nicht gefährden. Siehst du das nicht auch so?«
    Er nickte wortlos.
    »Pascal, was ist mit dir? Du bist irgendwie komisch …«
    Jetzt seufzte er.
    »Bin ich nicht! Ich bin vielleicht ein bisschen angespannt, aber ich krieg mich schon wieder ein.«
    »Super!« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Auf einen Freund wie dich könnte ich nicht verzichten.«
    Einen Freund wie mich, wiederholte Pascal in Gedanken. Aber ich möchte mehr. Versteh das doch endlich! Ich möchte mehr!
    Da sahen sie Dominique in seinem Rollstuhl auf sie zukommen.
    »Hallo, Leute!«, rief er und überwand geschickt ein paar Stufen. »Entschuldigt die Verspätung! Ich hoffe, ihr seid nicht genervt, aber dafür könnt ihr eure Beine benutzen.«
    Der zweite Satz passte zu Dominiques unverblümter Art.
    »Wie geht’s?«, fragte Michelle und beugte sich nun auch zu ihm, um seinen sehnsüchtigen Lippen ihre Wangen hinzuhalten.
    »Nicht so gut wie dir, du herzloses Biest. Wenn Pascal dir nicht genügt, kannst du immer noch mich haben …«
    Die Stichelei bestätigte Michelle, dass die beiden Freunde über ihr bisheriges Schweigen gesprochen hatten. Sie beschloss zurückzuschlagen: »Aber Dominique, was weißt du schon von Beziehungen? Ich dachte, deine Spezialität wäre Sex, und das auch noch virtuell. Seit wann interessierst du dich für die echte Liebe?«
    »Das kannst du gut, einen Behinderten fertigmachen«, beschwerte er sich. »Jetzt hast du’s dir echt vermasselt …«
    Auch wenn es so aussah; Pascal glaubte nicht, dass Dominique die Bemerkung Michelles wirklich witzig fand. Und dahinter stand, dass der Freund, so sehr er es auch zu verbergen suchte, es anscheinend noch immer nicht geschafft hatte, damit klarzukommen, dass sie beide womöglich ein Paar würden. Es war schwer für ihn …
    »Ich habe mich nur gewehrt, Kumpel, mehr nicht«, rechtfertigte sich Michelle, ohne zu bemerken, welchen Konflikt die beiden insgeheim ausfochten. »Und mach nicht so ein Gesicht, wir kennen dich.«
    »Nun gut«, gab Dominique nach. »Ich verzeihe dir. Wir schließen für eine Weile einen Nichtangriffspakt, okay?«
    Alle waren einverstanden, und während sie über die Schule sprachen,
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