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Totenreise

Totenreise

Titel: Totenreise
Autoren: David Lozano Garbala
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den Kopf.
    »Okay«, sagte Michelle widerstrebend, »ich hab keine Ahnung, was los ist oder wo wir überhaupt sind. Ich kann ja nicht einmal mehr auseinanderhalten, was wirklich ist und was nicht. Ihr bewegt euch so selbstverständlich in dieser komischen Welt … Warum hat sich nur alles so verändert? Ich habe genug von diesem Albtraum. Manchmal denke ich, dass alles, was ich einmal gekannt habe, gar nicht mehr existiert … vielleicht sogar nie existiert hat …«
    Pascal vergaß einen Moment lang ihre neue Sorge und nahm Michelle in den Arm.
    »Bald sind wir wieder in unserem Paris, aber du wirst das Ganze hier noch vorher verstehen, das verspreche ich dir«, sagte er und legte sein Gesicht an das von Michelle. »Ich werde dir alles haarklein erzählen. Und du kannst wieder in dein altes Leben zurück, glaub mir. Der Albtraum ist vorbei.«
    Mit Marc im Zwischenreich war das allerdings fraglich. War er der nächste Untote, dem es gelang, hier von der Zwischenwelt in die ihre zu wechseln? War er der nächste Vampir, der Angst und Schrecken verbreiten würde? Darüber wollte Pascal nicht nachdenken, nicht jetzt und nicht hier. »Danke für deine Rücksicht, Pascal«, sagte Michelle. »Ich bin mir fast sicher, dass du mir noch längst nicht alles erzählt hast«, fügte sie hinzu, als kenne sie seine Gedanken. »Aber ich muss wenigstens wissen, was mit Marc los ist. Sagt es mir schon, ich bin schließlich kein kleines Kind mehr.«
    Pascal und Beatrice nickten. Michelle hatte ein Recht darauf. »Ich glaube, dass dieser Marc – nennen wir ihn einmal so – sein kindliches Aussehen nur angenommen hat, um Mitleid zu erregen. Es ist eine Tarnung, denn er ist bereits tot und verdammt. Er hat unschwer erkannt, dass du zu den Lebenden gehörst, und hat dich getäuscht. Irgendwie muss er geahnt haben, dass jemand kommen würde, um dich zu retten, und er wollte die Gelegenheit nutzen, um seiner Strafe zu entgehen. Im Grunde hat er uns alle belogen, und es hat funktioniert.«
    Michelle musste das erst mal verarbeiten.
    Stille trat ein. Die Gesichter von Beatrice und Pascal verrieten ihr jedoch, dass sie von dem überzeugt waren, was sie sagten. Und dass dies, was geschehen war, ernste Konsequenzen haben konnte.
    Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin traten alle drei an den Rand des Leuchtpfads und starrten stumm in die Dunkelheit. Sie stellten sich vor, wie dieser »Junge« in die Finsternis entschwand und sich vielleicht ein letztes Mal umwandte, um sich mit einer spöttischen Geste von ihnen zu verabschieden. Sie seufzten. Welche Gestalt würde er nun wohl annehmen?
    Sie wandten sich ab von der Dunkelheit, da über den Leuchtpfad eine Gruppe winkend auf sie zukam, in der Pascal und Beatrice vertraute Gesichter erkannten. Es war nicht der Moment, um sich Sorgen zu machen, sondern um den Erfolg ihrer Mission zu feiern. Sie mussten es genießen, dass alles so gut verlaufen war, ihre Fröhlichkeit zurückgewinnen.
    Pascal hatte seinen Arm auf die Hüfte Michelles gelegt, zögernd und behutsam, und beide blickten sie den näher kommenden Gestalten, die freundlich lächelten, entgegen. Pascal genoss die Berührung und fragte sich, was die Erlaubnis dazu genau bedeutete. Doch Michelles Gesichtsausdruck verriet es ihm nicht. Er musste sich noch ein Weilchen gedulden. Sein Blick wanderte zu Beatrice. Beatrice …
    Er sah ihr an, was in ihr vorging. Sie musste Michelle und ihn beobachtet haben, doch es lag Traurigkeit auf ihrem Gesicht. Pascal wusste, dass noch immer ein schlagendes Herz in ihr war, gegen das sie nichts ausrichten konnte. Und er wusste, es war ihr klar, dass es nicht die geringste Möglichkeit gab … für sie beide.
    Sie wandte sich ab und ging den Toten entgegen, die sie in Empfang nehmen wollten. Bald würde sie sich von ihren Verletzungen erholen, die sie sich in dem unterirdischen Gang zugezogen hatte, und es gab so viel zu erzählen …
    Pascal warf einen letzten Blick in die Dunkelheit jenseits des Pfades. Er bemerkte es ganz plötzlich. Da war etwas. Etwas lauerte dort draußen. Dank seiner Fähigkeiten als Wanderer spürte er einen angehaltenen Atem und konnte das Gefühl nicht loswerden, dass er beobachtet wurde, dass etwas sich seine Gesichtszüge und seine Gestalt in all seinen Einzelheiten einprägte. Vielleicht war es das Wesen, das sie unfreiwillig gerettet hatten, diese Seele aus dem Reich der Finsternis, die sich ihrer Tarnung nun entledigt hatte. Ein dunkles Wesen, das sich das Bild des Wanderers
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