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Totenreise

Totenreise

Titel: Totenreise
Autoren: David Lozano Garbala
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zwischen zwei Welten, als beugte er sich über eine gefährliche Fensterbank in einen Abgrund. Pascals Blick bot sich eine undurchdringliche Finsternis, und in der Mitte des weiten Raums stand jene Person, die eben noch versucht hatte, ihn auf ihre Seite zu ziehen. »Du bist der Wanderer«, behauptete die seltsame Gestalt. »Hilf mir …«
    Die Frau, die schon ziemlich alt war, weinte.

1
    AM 26. OKTOBER machte Dominique Herault seinem Freund Pascal den ungewöhnlichen Vorschlag, eine Wahrsagerin aufzusuchen. Einfach so, aus Spaß. Pascal wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Sollten sie sich von einer zwielichtigen Hexe etwas über ihre Zukunft erzählen lassen? Schon eine witzige Vorstellung … aber auch irgendwie beunruhigend.
    Allerdings gab es etwas, das er wirklich gerne wissen wollte. Und das war, ob Michelle Tauzin sich endlich für ihn entscheiden würde. Wochenlang hatte er es vor sich hergeschoben, um dann endlich, am Tag zuvor, den Mut zu finden und ihr zu sagen, dass er total in sie verknallt war. Bisher waren Dominique und er nur locker mit ihr befreundet, wie mit einem Kumpel eben, doch das hatte ihn, Pascal, nicht davon abhalten können, endlich damit herauszurücken, was er wirklich für sie empfand. »Könntest du dir vorstellen …«, hatte er gefragt, »dass wir beide …«, und den Satz nicht beendet. Seither wartete er mit quälender Ungeduld auf ihre Antwort.
    Michelle sah unheimlich gut aus, doch außerdem war Pascal fasziniert von ihrer Willenskraft, ihrer klaren Beobachtungsgabe und ihrem Gefühl für Gerechtigkeit und Verantwortung gegenüber anderen. Sie war in allem so anders als er.
    An ihrer Seite fühlte er sich sicher, und das machte sie sowohl interessant als auch unnahbar. Doch eine richtige Beziehung zueinander konnte auch Stress bringen. Wäre Michelle bereit, sich darauf einzulassen?
    Dominique hatte nicht gerade positiv auf seinen Vorstoß bei Michelle reagiert, das war nicht zu übersehen gewesen, denn der Freund war jemand, der sonst über alles lachte, doch diesmal war er ernst geblieben. Es war klar, wenn Michelle Ja sagte, würde sich ihr beider Verhältnis ändern. Auch wenn er Dominiques Reaktion ein wenig egoistisch fand, warf Pascal es ihm nicht vor. Das würde vorbeigehen, er konnte einfach nicht lange sauer sein.
    »Wenn das Leben sowieso nur kurz ist, wozu das Leiden unnötig verlängern?«, pflegte Dominique in schwierigen Situationen zu sagen. Pascal hoffte, dass sich sein Freund auch diesmal an diese Philosophie halten würde. Er selbst war sich seiner Sache jedenfalls sicher: Wenn es um Michelle ging, war kein Hindernis zu groß.
    Schon seit Monaten raubte sie ihm den Schlaf, ging ihm einfach kaum aus dem Kopf, und schließlich konnte er nicht mehr anders, als mit seinem Geständnis ihr bisher normales, freundschaftliches Verhältnis zueinander zu riskieren.
    Michelle hatte vor Überraschung nur mit einem zögernden »Ich brauche ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken, ich will das, was wir haben, nicht aufs Spiel setzen« geantwortet. Pascal wäre eine etwas deutlichere Antwort lieber gewesen
    (vor allem, wenn es sich um ein Ja gehandelt hätte), doch zumindest hatte er kein endgültiges Nein bekommen. Wenn Michelle sich nicht sicher war, dann offenbar, weil auch sie etwas für ihn empfand, das über bloße Freundschaft hinausging. Und diese Wahrsagerin, die sie aufsuchen würden, könnte ihm vielleicht einen Hinweis darauf geben, wie Michelles Antwort letztlich ausfallen würde.
    Sie standen vor einem schmutziggrauen Gebäude in einer der ältesten Ecken von Paris, der Stadt, in der Pascal mit seinen Eltern lebte, seit sie Spanien vor zehn Jahren verlassen hatten. Dominique und er waren über einen Durchgang, den Impasse de l’Hôtel d’Argenson, dorthin gelangt, in eine enge Gasse im Viertel Le Marais.
    Alles hier machte einen heruntergekommenen, schmutzigen Eindruck, und so zögerten die beiden, ob sie wirklich das Haus betreten sollten. Doch nun waren sie einmal hier: Pascal mit seiner dunklen Lederjacke und den tief sitzenden Hüfthosen, an deren Bund die Unterhose hervorsah, und Dominique mit weit geschnittenen Skaterklamotten, der Kappe und einem wie immer coolen Gesichtsausdruck in seinem Rollstuhl. Sie sahen sich an.
    »Nun los! Nur mutige Männer gehen in die Geschichte ein«, versuchte Dominique den Freund aufzumuntern.
    »Das hat nichts mit Mut zu tun, wenn man etwas macht, von dem nicht klar ist, was es bringt; es ist eher
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