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Totenreise

Totenreise

Titel: Totenreise
Autoren: David Lozano Garbala
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durchquerten sie auf dem Weg zur Seine die Tuilerien, die alten königlichen Parkanlagen, an deren Ende man die schmalen Umrisse des ägyptischen Obelisken auf dem Place de la Concorde erkennen konnte. Pascal trat hinter seinen Freund, um dessen Rollstuhl zu schieben, und bekam dafür ein: »Danke, Darling!«
    »Hast du schon mal Lineage II gespielt?«, fragte Pascal, denn er kannte Dominiques Leidenschaft für alles, was mit Computern zu tun hatte, besonders für Online-Computerspiele wie Lineage.
    »Selbstverständlich«, antwortete er. »Aber alle meine Gegner sind so schwach, dass ich mich langweile, wirklich. Ich spiele besser allein.«
    Michelle und Pascal glaubten ihm, das war keine Koketterie. Sie wussten über seine Computerkünste Bescheid. Er war ein echter Hacker! Informatik, Mathematik und Lesen waren Dominiques große Leidenschaften, drei Hobbys, bei denen der Rollstuhl kein Hindernis darstellte; anders war es bei den Mädchen … »In der virtuellen Welt rennt niemand schneller als ich …«, hatte er einmal gesagt.
    Die Spätnachmittagssonne schimmerte golden, und eine frische Brise, die vom Fluss herüberwehte, kräuselte die Wasseroberfläche der Teiche. Hinter dem Park, am gegenüberliegenden Ufer der Seine, erhoben sich die Fassaden der Gebäude an der Rue de Rivoli, einer Luxusmeile mit eleganten Geschäften.
    »Michelle, du musst deine Kontakte für mich spielen lassen«, bat Dominique, als sie den Fluss erreichten. »Heute Abend hab ich etwas vor mit euch.«
    Pascal war überrascht; er hatte gedacht, sie würden ins Kino gehen.
    »Und was soll das sein, dass du sogar Michelles Hilfe brauchst?«, wollte er wissen. Doch es kam keine Antwort.
    * ** Ja, Daphne sah sie. Und erkannte sie. Diese Wesen, die weinten und klagten, deren Blut hier hervorkam, waren die Geister der unschuldigen Kinder, Opfer eines grausamen Verbrechens, das weit zurücklag. Der Brunnen, der für sie auf diesem Platz errichtet worden war, trug seinen Namen in Erinnerung an sie. Doch die Bewohner von Paris hatten die Kinder, die Unschuldigen, längst vergessen.
    Und diese Geschöpfe blickten sie, Daphne, jetzt an, während sie durch die Luft schwebten und ihr das weit zurückliegende Massaker wieder in Erinnerung brachten. Der Blutteppich zu ihren Füßen breitete sich aus, langsam, unaufhaltsam, und Daphne spürte durch ihre Schuhe hindurch die ekelerregende Flüssigkeit, wie den tödlichen und langsamen Fluss glühend heißer Lava.
    Dieses finstere Schauspiel, das Beben, die Risse im Boden, das Blut, all dies musste eine Nachricht aus dem Jenseits sein, eine Warnung. Daphne, eine erfahrene Interpretin der Sprache verirrter Seelen, hatte nicht den geringsten Zweifel daran.
    Sie schloss die Augen und presste ihre Hände auf die Ohren, um die erneut über den Platz hallenden Schreie der Kinder aus dem Jenseits in ihrem Kopf zu dämpfen und aus der Trance zu erwachen. Sie musste in die wirkliche Welt zurückkehren und diese entsetzliche Vision verlassen. Irgendetwas Schlimmes stand in Paris bevor.
    Langsam verebbten die Schreie, und Minuten später hob sie den Blick und stellte fest, dass der Place Joachim du Bellay wieder aussah wie immer. Sogar der Wind, der zuvor darüber hinweggefegt war, hatte sich gelegt. Sie war zurückgekehrt in ihre Dimension. Niemand hatte irgendetwas mitbekommen, niemand beachtete die wunderliche Alte, die mit steinerner Miene den Brunnen anstarrte, um den herum jetzt ein paar Jugendliche Skateboard fuhren.
    Zitternd und bleich ließ sich Daphne auf die nächste Bank sinken.
    Was konnte das alles bedeuten?
    ***
    Dominique hatte also heute Abend etwas vor mit ihnen. Neugierig wandte sich Michelle im Weitergehen zu ihm um und lächelte ihn an: Dominique mit seinem Blondschopf, Oberkörper und Arme kräftig vom jahrelangen Schieben des Rollstuhls, in dem er aufrecht und mit der Würde eines Königs saß. Mit verschwörerischer Miene begegnete er ihrem Blick. Michelle sah seine blauen Augen, mit denen er sie betrachtete; Augen, die stets eine konzentrierte Energie versprühten, eine Energie, die er aufgrund seiner Behinderung auf keine andere Weise als mit schlagfertigen Sprüchen loswerden konnte.
    Dominiques Selbstvertrauen wirkte anziehend. Jemand, der sich von seiner vollen Stimme, von seinem strahlenden Lächeln oder seinen witzigen Grimassen beeindrucken ließ, bemerkte den Rollstuhl unter ihm nicht mehr. Michelle passierte das häufig. Und oft war sie überrascht von sich selbst, wenn sie ihrem
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