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Totennacht (German Edition)

Totennacht (German Edition)

Titel: Totennacht (German Edition)
Autoren: Todd Ritter
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Fahrradfahren gut geeignet. Er führte zu einer Brücke mit Ausblick auf die Sunsets Falls, die rund zehn Meter tief in einen Tümpel stürzten. Charlie hatte in diesem Sommer zum ersten Mal allein dorthin radeln dürfen. Maggie bereute die Entscheidung jetzt.
    «Hast du an der Brücke nach ihm gesehen?», fragte sie.
    Als er nur mit einem Seufzen reagierte, verspürte sie den Drang, ihm ins Gesicht zu schlagen. Sie hätte es auch getan, aber sie hatte den Kleinen im Arm. Mit ein paar saftigen Ohrfeigen hätte sie ihn gefragt, warum er Charlie nicht begleitet habe, warum er zurückgekommen sei, statt weiter nach ihm zu suchen.
    «Natürlich war ich an der Brücke. Da bin ich als Erstes hin. Die Polizei ist immer noch dort.»
    Dann musste eben woanders gesucht werden. Sie würde nach ihm suchen, denn Ken hatte ja offenbar aufgegeben für diese Nacht. Maggie musste einfach irgendetwas tun. Wenn sie nur hier herumstand, war ihrem Sohn nicht geholfen.
    «Wo willst du hin?», fragte Ken.
    Maggie antwortete nicht. Die Antwort lag schließlich auf der Hand. Sie wollte ihren Sohn finden.
    Ken rief ihr durch den Regen nach: «Lass den Kleinen hier. Ich will nicht ...» Er hielt inne und ließ unausgesprochen, dass er sie mit dem Kind nicht allein lassen wollte. Nicht nach dem, was im Mai geschehen war. Deshalb hatte er sie nach Charlies Verschwinden nicht geweckt und stattdessen Ruth gebeten, auf den Kleinen aufzupassen. Deshalb wollte er sie nun zurückhalten.
    Aber Maggie eilte weiter. Sie konnte nicht anders, obwohl es zu schütten angefangen hatte. Obwohl Ken sie inständig bat umzukehren. Obwohl der Abstand zwischen ihr und ihrem Mann mit jedem Schritt größer wurde.

    In der Sackgasse, in der sie wohnten, standen vier Einfamilienhäuser, durch große Rasenflächen und Platanenreihen voneinander getrennt. Das von Ken und Maggie war das kleinste – praktisch nur ein Cottage. Auf der anderen Straßenseite wohnten die Eheleute Lee und Becky Santangelo in einem weitläufigen gepflegten Haus, zu dem ihres im Vergleich geradezu dürftig aussah.
    Ken stand noch in der Einfahrt und sah Maggie den Vorgarten der Santangelos durchqueren. Auch der war viel größer als der eigene, eine großflächige Grünanlage, die von einem Teenager aus dem Ort in Schuss gehalten wurde. Jetzt aber war sie vom Regen aufgeweicht. Der Boden gab unter Maggies bloßen Füßen nach, als sie auf die Eingangsveranda zueilte. Vor der Tür angekommen, klopfte sie zweimal mit dem großen Messingklopfer an. Weil nicht gleich jemand antwortete, pochte sie, bis Lee Santangelo schließlich öffnete.
    Lee und Ken waren so unterschiedlich wie ihre Häuser. Lee war größer und sehr viel attraktiver, athletisch gebaut und immer frisch rasiert. Wie der Star einer Vorabendserie. Normalerweise freute er sich und machte die Tür weit auf, wenn Maggie und Charlie vorbeischauten. Nicht so in dieser Nacht. Er öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und spähte halb überrascht, halb ärgerlich durch die Lücke.
    «Maggie», grüßte er und bemühte sich um eine freundliche Miene. «Was ist los?»
    Es waren die gleichen drei Worte, die Maggie an Ruth Clark gerichtet hatte. Nun hörte sie, wie hart und anklagend diese Frage klang.
    «Charlie ist verschwunden und nirgends zu finden.»
    Im Haus spielte laute Musik, irgendetwas Psychedelisches, das Maggie nicht einordnen konnte. Dahinter war, kaum wahrnehmbar, ein schwirrender Laut auszumachen. Als Maggie an Lee vorbeizuschauen versuchte, versperrte er ihr den Blick. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er kaum etwas anhatte, nur Boxershorts und ein Hemd, das er anscheinend gerade erst übergeworfen hatte, denn es war nicht zugeknöpft. Sei’s drum. Es wäre ihr auch egal gewesen, wenn er nackt vor ihr gestanden hätte.
    «Und Sie meinen, er könnte zu uns gekommen sein?», fragte Lee.
    «Bei all dem Rummel um die Mondlandung dachte ich ...»
    Lee Santangelo war Astronaut oder hätte zumindest einer sein können, denn als solcher war er ausgebildet worden. Näheres wusste Maggie nicht. Sie wusste nur, dass Charlie ihn den ganzen Sommer über mit Fragen gelöchert hatte.
    «Er ist nicht hier gewesen. Tut mir leid. Aber ich werde natürlich beide Augen offen halten.»
    «Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm bitte, dass wir nach ihm suchen. Dass wir uns große Sorgen machen.»
    Den letzten Satz hatte sie in der Hoffnung hinzugefügt, Lee würde die Tür öffnen und ihr einen Blick in die Wohnung gestatten. Stattdessen wollte er sie
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