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Totennacht (German Edition)

Totennacht (German Edition)

Titel: Totennacht (German Edition)
Autoren: Todd Ritter
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hatte er gejubelt, Luftsprünge gemacht und so laut geschrien, dass er sich anschließend beinahe übergeben musste.
    Das hier würde er auch sehen wollen, dachte Maggie. Dieses historische Ereignis.
    «Ich wecke Charlie.»
    Ruth folgte ihr zur Treppe. «Warte, Maggie!»
    Maggie ließ sich nicht aufhalten und eilte die Stufen hinauf. Ihre nackten Füße klatschten auf die Holzdielen, als sie auf Charlies Schlafzimmer zusteuerte. Ruth blieb unten und rief.
    «Bitte, komm zurück! Charlie ist nicht da.»
    Maggie hatte schon die Hand am Türknauf. «Was soll das heißen?»
    «Komm wieder runter», sagte Ruth. «Ich erklär’s dir.»
    Maggie hörte nicht auf sie und stieß die Tür auf. Die Straßenlaterne warf einen rechteckigen Lichtfleck auf den Boden. Wie im Zimmer des Babys brauchte sie auch hier kein Licht, um sich zu orientieren. Sie kannte jeden Quadratzentimeter, vom Fernrohr in der Ecke bis hin zu den Modellraketen, die aufgereiht auf dem Bücherregal standen.
    Das Fenster war geöffnet. Ein feuchter Lufthauch bauschte den Vorhang. Darunter stand Charlies Bett. Das Baby im Arm, schlug Maggie die mit Monden, Sternen und Planeten bedruckte Decke auf.
    Wie die Wiege war das Bett leer.
    «Komm bitte runter.» Ruth stand jetzt vor der Tür und atmete schwer. Ihr Gesicht war verkniffen.
    «Wo ist er? Hat Ken ihn mitgenommen?»
    Ruth trat ins Zimmer und versuchte, ihre Hand zu ergreifen. Maggie riss sich von ihr los. «Antworte mir, Ruth. Wo ist mein Sohn?»
    «Verschwunden.»
    «Ich verstehe nicht.»
    Maggie verstand sehr wohl. Sie wankte zurück und fiel aufs leere Bett. Das Bett, in dem jetzt Charlie liegen müsste. Ihr Junge. Der verschwunden war.
    «Ist Ken deshalb losgezogen? Um ihn zu suchen?»
    «Er hat die Polizei verständigt», antwortete Ruth. «Dann ist er zu uns rüber und hat mich und Mort geweckt.»
    Mort war Ruths Mann. Maggie nahm an, dass er sich an der Suche nach Charlie beteiligte, zusammen mit der Polizei und Gott weiß wem noch. Außer ihr schienen alle zu wissen, dass der Junge verschwunden war.
    «Warum hat mich niemand geweckt?»
    «Ken meinte, du seist nicht wach zu kriegen. Und wenn doch, würdest du dir nur Sorgen machen.»
    Allerdings, sie machte sich Sorgen. Reglos hockte sie auf Charlies Bett, doch ihre Gedanken rasten, von Angst und schlimmsten Befürchtungen getrieben. Wo war Charlie? Seit wann war er verschwunden? War es vielleicht schon zu spät, ihn zu finden? Als sie das Durcheinander im Kopf ein wenig sortiert hatte, wurde ihr Körper wieder aktiv. Sie stand auf und eilte an Ruth vorbei in den Korridor.
    «Ich muss nach ihm suchen», sagte sie. «Ich muss ihn finden.»
    Wieder versuchte Ruth, sie aufzuhalten. «Gib mir das Baby.»
    «Nein.»
    Maggie drückte den Kleinen fest an ihre Brust. Eines ihrer Kinder war verschwunden, und sie würde das andere nicht loslassen, bis Charlie wiederaufgetaucht war.
    Sie ging die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer. Der Fernseher strahlte surreale Bilder einer anderen Welt aus. Ein zweiter Astronaut hatte sich zu Armstrong gesellt. Beide sprangen wie Hasen über die Mondoberfläche. Maggie schaute nicht hin. Ihre einzige Sorge galt den Kindern. Um die Astronauten kümmerte sie sich nicht, auch nicht um den Regen, als sie auf bloßen Füßen, mit abgeschnittenen Jeans und in einem fleckigen T-Shirt nach draußen eilte.
    In der Einfahrt kamen ihr zwei Männer entgegen. Einer von ihnen war Ken, der andere Mort Clark. Maggie blickte an ihnen vorbei in der Hoffnung, Charlie folge ihnen. Aber das tat er nicht.
    «Habt ihr ihn gefunden?», fragte sie, als sie mit den beiden zusammentraf. «Wo ist er?»
    «Ich weiß nicht», entgegnete Ken. «Keine Ahnung.»
    Er war bleich und wirkte gehetzt, gespenstisch wie die Astronauten im Fernsehen. Das Haar klebte klatschnass auf seiner Stirn. Der Bart tropfte.
    «Wir haben ferngesehen», erklärte er. «Die Mondlandung. Charlie wollte plötzlich mit dem Fahrrad los. Er sagte, er würde die Astronauten draußen vielleicht mit bloßem Auge erkennen können.»
    Eine unsinnige Idee, die aber zu dem Jungen passte. Maggie konnte sich vorstellen, wie er auf seinem Fahrrädchen – dunkelblau mit ungeschickt aufgemalten Sternen – aufgeregt durch die Nachbarschaft strampelte.
    «Wie lange ist das her?»
    «Ungefähr eine Stunde.»
    «Wohin ist er gefahren?»
    «Zum Wasserfall.»
    Charlie hielt sich gern an dem kleinen Fluss auf, der am Ende der Sackgasse durch den Wald strömte. Es gab dort einen Fußweg, zum
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