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Totenkünstler (German Edition)

Totenkünstler (German Edition)

Titel: Totenkünstler (German Edition)
Autoren: Chris Carter
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gespielt haben. Sie war unglaublich geschickt. Sie konnte alles nachmachen – Tiere, Menschen, Engel … einfach alles. Wir hatten nicht viel Geld, deswegen hatte ich nie richtiges Spielzeug. Unser Schattentheater war mein Spielzeug. Wir haben stundenlang dagesessen und uns Geschichten ausgedacht. Alberne kleine Theaterstücke an die Wand geworfen. Kerzenlicht und unsere Hände, mehr haben wir dafür nicht gebraucht. Wir waren glücklich.«
    Hunter schloss einen Moment lang die Augen. Deswegen hatte sie die abgetrennten Gliedmaßen ihrer Opfer zu Schattenbildern geformt – als makabren Tribut an ihre Mutter. Auch dies war ein Weg gewesen, ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen.
    » Er hat nie mit mir gespielt, wissen Sie?«, sagte Olivia kopfschüttelnd. »Als ich noch klein war, ist er nie mit mir in den Park gegangen oder auf den Spielplatz. Er hat mir nie vorgelesen oder mich auf seinen Schultern reiten lassen oder so getan, als würden wir zusammen Tee trinken, so wie andere Väter. Ich habe immer ganz allein Schattentheater gespielt.«
    Hunter ließ sie weiterreden. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Nachdem er es mir gesagt hat, bin ich nach Hause gefahren und habe drei Tage lang nur geheult. Ich hatte keine Ahnung, wie ich weitermachen sollte. Mein ganzes Leben war eine Lüge gewesen, eine gute Tat, damit mein Vater nachts ruhig schlafen konnte. Ich habe nie die Liebe bekommen, die ein Kind verdient hat. Nur von meiner Mutter. Und jetzt wusste ich, dass alle vier, die sie damals in Stücke gehackt und ins Meer geworfen haben wie Abfall – dass diese vier Menschen inzwischen Familie hatten, eine Karriere … dass sie für das, was sie getan hatten, nicht einen Funken Scham oder Reue empfanden. Und dass sie nie ihre gerechte Strafe erhalten hatten. Das war das Allerschlimmste.«
    Hunter wusste, dass es nur wenige Menschen gab, die an dem, was Olivia widerfahren war, nicht innerlich zerbrochen wären. Und dass selbst diese Menschen für immer gezeichnet wären.
    »Sie wissen genauso gut wie ich, dass mir Dereks Geständnis nichts genützt hätte, um diese Schweine vor Gericht zu bringen. Es ist vor achtundzwanzig Jahren passiert, und ich hatte keine Beweise, nur das Wort eines Sterbenden. Die Polizei hätte nichts unternommen und auch die Staatsanwaltschaft nicht oder sonst jemand. Niemand hätte mir geglaubt. Ich hätte einfach weiterleben müssen wie bisher, so wie ich die letzten achtundzwanzig Jahre gelebt hatte.« Sie schüttelte den Kopf. »Das konnte ich nicht. Hätten Sie das gekonnt?«
    Hunter dachte an die Zeit zurück, kurz nachdem sein Vater in der Bank of America niedergeschossen worden war. Er war damals noch nicht bei der Polizei gewesen. Aber er konnte sich noch gut an seinen Zorn erinnern. Ein Zorn, der immer noch in ihm schlief. Und Polizist hin oder her, sollte er jemals denen begegnen, die seinen Vater auf dem Gewissen hatten, würde er sie töten – ohne einen Augenblick des Zögerns.
    »Ich war so kurz davor, mich umzubringen.« Olivias Worte katapultierten Hunter zurück ins Hier und Jetzt. »Und dann ist mir eins klargeworden: Wer sich selbst töten kann, der kann töten. So einfach ist das. Und ich habe mir geschworen, dass ich selbst für Gerechtigkeit sorgen würde, ganz egal, was auch geschieht. Für meine Mutter. Sie hat Gerechtigkeit verdient.«
    Ihr Blick geisterte ziellos durch den Raum.
    »Die Idee ist mir wie im Traum gekommen. Als wäre meine Mutter da gewesen und hätte mir gesagt, was ich tun soll. Als hätte sie mir den Weg gezeigt. Mein Va…« Wieder flackerte dieser unbändige Zorn in ihren Zügen auf. »Derek Nicholson hatte ein Faible für Mythologie. Er las ständig irgendwelche Bücher darüber und warf mit Zitaten um sich. Da fand ich es nur angemessen, aus ihm ein mythologisches Symbol zu machen.« Sie zog den Schlitten von Hunters Waffe zurück und lud sie durch.
    Es war Zeit für den letzten Akt.

116
    Erneut sah Hunter zu Olivia hoch. Er würde niemals an sie herankommen, ohne dass sie es vorher bemerkte und auf ihn schoss. Der Raum war zu groß, und sie war zu weit entfernt, als dass er irgendeine Bedrohung für sie dargestellt hätte. Außerdem hatte er zu lange mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Boden gelegen. Seine Muskeln würden ihm nicht auf Anhieb gehorchen, wenigstens nicht mit der nötigen Schnelligkeit.
    »Möchten Sie jetzt auch noch die letzte Skulptur sehen?«, fragte Olivia. »Das letzte Schattenbild? Den Schluss meines kleinen Lehrstücks
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