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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen
Autoren: B Akunin
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Fenster, um auf die Straße zu sehen. Posharski mußte jeden Moment eintreffen. Dann würde der Gerechtigkeit Genüge getan, der Tod der Genossen gerächt werden: Stieglitz, Jemelja, Biber, Marat, Nobel, Schwarz. Und Splint.
    Plötzlich bemerkte er etwas Seltsames: den Abdruck einer Sohle auf dem Fensterbrett, direkt unter der offenen Luke. Ein irritierendes Zeichen, das Gefahr verhieß – welche, darüber konnte Grin nicht mehr nachdenken. Die Türglocke schellte.
    Julie ging öffnen. Grin stand mit dem Colt im Anschlag hinter der Tür.
    »Ich warne Sie!« flüsterte er, und sie, abwinkend: »Ach, hör doch auf!«
    Sie zog den Riegel zurück.
    »Gleb! Komm rein, ich bin allein!« sprach sie zu jemandem, den Grin nicht gleich sah.
    Ein Mann in dunkelgrauem Mantel und Marderfellmütze trat in den Flur. Stand mit dem Rücken zu Grin, bemerkte ihn nicht. Während Julie Posharski flüchtig auf Ohr und Wange küßte, blickte sie über seine Schulter hinweg, zwinkerte Grin zu.
    »Komm! Ich zeig dir was.«
    Sie nahm den Polizeipräsidenten bei der Hand, zog ihn hinter sich her ins Zimmer. Grin schlich ihnen nach.
    »Wer ist das denn?« fragte Posharski bei Nadels Anblick. »Moment! Nicht sagen, ich komme selber drauf … Heureka! Na, das ist ja eine Überraschung! Julie! Sag bloß, dir ist es gelungen, Mademoiselle Nadel auf die Seite des Gesetzes zu ziehen? Was bist du für ein kluges Mädchen … Und wo ist, wenn man fragen darf, der Schwarm meines Herzens, Herr Grin, der tapfere Ritter der Revolution?«
    In dem Moment bohrte Grin ihm die Mündung zwischen die Schulterblätter.
    »Hier bin ich. Hände hoch. Zur Wand und langsam umdrehen.«
    Posharski breitete die Arme aus, Hände in Schulterhöhe, tat vielleicht zehn Schritte vorwärts, wandte sich um. Seine Miene war angespannt, die Stirn gefurcht.
    »Eine Falle«, sagte er. »Was bin ich blöd. Hab mir eingebildet, daß du mich liebst, Julie. Ein Irrtum. Nun ja. Kluge Hühner legen auch in die Nesseln.«
    »Was bedeutet T. G.?« fragte Grin, den Finger am Abzug.
    Der Polizeipräsident lachte leise.
    »Aha … Ich hab mich schon gewundert, wieso mir HerrGrin nicht gleich eine Kugel ins Genick gepflanzt hat. Nicht alles Menschliche ist uns fremd, ja? Uns plagt die Neugier? Warum auch nicht. Einem alten Bekannten antwortet man gern auf ein paar Fragen. Erst recht, wenn ein paar Minuten Lebenszeit dabei herausspringen. Ich für mein Teil bin jedenfalls hocherfreut, den Adressaten meiner Sendschreiben persönlich kennenzulernen. Sie sind genauso, wie ich Sie mir vorgestellt habe. Fragen Sie, was Sie wollen, nur keine Hemmungen.«
    »T. G.«, wiederholte Grin.
    »Das ist Unfug. Ein Scherz. Tertius gaudens, der lachende Dritte. Der tiefere Sinn ist Ihnen hoffentlich klar? Die Staatsdiener ziehen gegen Sie zu Felde und Sie gegen die, die mir im Weg sind. Währenddessen schaue ich dem Gaudium zu und reibe mir die Hände. Ich fand das witzig.«
    »Wieso Ihnen im Weg? Wobei? Gouverneur Bogdanow, General Seliwanow, der Renegat Stassow …«
    »Sparen Sie sich die Mühe, mein Gedächtnis funktioniert«, fiel Posharski ihm ins Wort. »Bogdanow war eine private Gefälligkeit für den damaligen Vizedirektor im Departement, meinen Vorgänger im Amt. Er hatte seit langem ein Verhältnis mit der Frau des Gouverneurs von Jekaterinograd und wünschte sich nichts sehnlicher, als daß sie Witwe würde. Diese Gelüste waren freilich vollkommen unschuldiger Natur, doch einmal geriet mir zufällig ein Liebesbrieflein Seiner Exzellenz in die Hände, worin er so unvorsichtig war zu schreiben: ›Ach, wenn Deinen Göttergatten doch die Terroristen holten! Ich hielte ihnen noch die Tür.‹ Diese Gelegenheit konnte ich nicht ungenutzt lassen. Nachdem Sie Bogdanow so heldenhaft beseitigt hatten, durfte ich mit dem verliebten Träumer ein vertrauliches Gespräch führen,und der Posten des Vizedirektors war frei. Generalleutnant Seliwanow? Da lag der Fall vollkommen anders. Das war ein unerhört kluger Mann. Und er wollte genau dahin, wohin auch ich wollte, war mir aber stets ein paar Treppchen voraus. Stand mir sozusagen in der Sonne, und das kann nicht gut sein. Für Seliwanow also meinen ergebensten Dank. Nachdem Sie ihn in den Hades geschickt hatten, empfahl sich als oberster Thronwächter am eindringlichsten meine Wenigkeit. Danach kam, wenn ich mich recht erinnere, die Apothekerinsel, das Attentat auf mich und ›Mitarbeiter‹ Stassow, nicht wahr? Hier ging es um zweierlei: erstens das eigene
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