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Tortenschlacht

Tortenschlacht

Titel: Tortenschlacht
Autoren: Oliver G Wachlin
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Nacht abgebrannt ist? »Telefon, schnell!«
    Hünerbein reicht es mir.
    Ich wähle durch. Besetzt, schon nach der Vorwahl. Zwar wurden im letzten halben Jahr die Leitungen von und nach Westberlin verbessert, dennoch kommt man noch immer schwer durch. Jetzt klappt es nach der zweiten Anwahl, ich warte. Nach dem fünften Klingeln geht mein Code-A-Phone-Anrufbeantworter ran. »Hans Dieter Knoop missioniert im wilden Osten. Nachrichten nach dem Piep.«
    »Melanie, wenn du da bist, geh bitte ran. Wir haben hier eine Liste, auf der du vermisst gemeldet wirst, und natürlich mache ich mir Sorgen«, sage ich und setze ruhiger hinzu: »Genauso natürlich gehe ich davon aus, dass alles in Ordnung ist. Ruf mich trotzdem unter der Dienstnummer an. Danke.« Ich tippe auf die Gabel, wähle die Nummer vom Gymnasium. Besetzt, noch mal wählen, wieder besetzt. Ich sehe Hünerbein an. Diese Stadt macht mich noch wahnsinnig. Wieder wähle ich, höre endlich ein Rufzeichen.
    »Bonhoeffer-Gymnasium, Oertke-Wangenheim am Apparat, ich höre!«
    »Guten Tag, Frau Oertke-Wangenheim«, bemühe ich mich um Ruhe, »eine Frage: Ist meine Tochter heute in der Schule?«
    »Wer spricht?«
    »Knoop, Hans Dieter, ich bin der Vater von Melanie Droyßig …«
    »Heute ist A-Samstag«, erwidert Frau Oertke-Wangenheim und hat einen vorwurfsvollen Unterton in der Stimme. »Da werden nur unsere A-Klassen unterrichtet. Im Gegensatz zum B-Samstag, wo nur die B-Klassen …«
    »Meine Tochter geht in die 10 A, Frau Oertke-Wangenheim. Könnten Sie bitte nachsehen?«
    »Also hören Sie mal!« Frau Oertke-Wangenheim scheint ungehalten. »Ich weiß nicht, ob …«
    »Liebe Frau Oertke-Wangenheim«, unterbreche ich sie und kann ein nervöses Flackern in meiner Stimme nur schwer unterdrücken, »schauen Sie einfach nach, ob das Kind in der Klasse ist!«
    »Na gut.« Durch den Hörer hört man Papier rascheln. »Geben Sie mir Ihre Nummer, ich rufe zurück.«
    »Nein, ich warte.«
    »Das kann aber einen Moment dauern.«
    »Macht nichts. Ich warte.«
    Hünerbein macht ein gespanntes Gesicht. »Was ist?«
    »Die gucken nach«, antworte ich und hoffe innigst, Melanies Namen von dieser autonomen Vermisstenliste tilgen zu können. Vergebens. Nach endlosen fünf Minuten ist Frau Oertke-Wangenheim zurück und teilt mit, dass Melanie heute nicht zum Unterricht gekommen ist.
    »Das habe ich befürchtet«, stöhne ich, »danke.« Ich lege den Hörer auf, überlege, wen ich als Nächstes anrufen kann. Mir ist ganz flau im Magen.
    Mein Gott, Melanie! Was treibt die nur? Kann es wirklich sein, dass sie nachts noch mal los ist? Manchmal macht sie so was ja, vor allem am Wochenende. Aber wenn sie am nächsten Tag Schule hat …?
    Ich sollte mich mehr um sie kümmern. Du lieber Himmel: Allein die Vorstellung, dass ihr in dem abgebrannten Haus was passiert sein könnte, treibt mir den Angstschweiß auf die Stirn.
    Ein Toter, verdammt! – Ist es meine Tochter?
    »Stopp, Sardsch, ganz ruhig!« Hünerbein reicht mir ein Taschentuch. »Okay, wir haben eine Leiche. Aber nur eine. Und hier auf der Liste stehen neun vermisste Personen. Was ich sagen will, ist, wir wissen zwar nicht, wo sich derzeit deine Tochter aufhält, dass aber ausgerechnet sie die aufgefundene tote Person sein soll, halte ich, mit Verlaub, für äußerst unwahrscheinlich.«
    »Acht zu eins«, erwidere ich.
    »Acht zu eins«, nickt Hünerbein.
    3    MIT EINEM DUNKELGRÜNEN Robur-Mannschaftsbus der Volkspolizei geht es hoch in den Prenzlauer Berg. Eigentlich müsste es heißen »auf den Prenzlauer Berg«, aber so heißen im eher flachländischen Berlin mehrere Stadtbezirke; Schöneberg, Kreuzberg und eben Prenzlauer Berg; und in die fährt man rein. Von Bergen ist ohnehin nichts zu sehen, nur Häuser, die übliche Bebauung aus der Gründerzeit, und die ist hier im Osten vollkommen heruntergekommen. Wieder einmal habe ich das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Im Prenzlauer Berg sieht Berlin aus wie nach dem Krieg: Notdürftig zusammengeflickte Häuser, überall bröckelt der Putz, in den Stuckresten klaffen Einschusslöcher – es fehlen nur die Rotarmisten. Passend dazu ist das Wetter. Tiefe Wolken ziehen über die Stadt, und es regnet wie aus Eimern. Der Herbst kommt früh in diesem Jahr, denn es ist gerade mal Ende September. In New York haben sie jetzt den Indian Summer. Doch statt im Big Apple hocke ich hier, im tiefsten Ostberlin, nur knapp vier Kilometer Luftlinie vom heimatlichen Schöneberg
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