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Tortenschlacht

Tortenschlacht

Titel: Tortenschlacht
Autoren: Oliver G Wachlin
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biste dabei?«
    Ich atmete tief durch. Weniger rauchen, anderthalb Stunden Sport die Woche und vor jeder Entscheidung bis zehn zählen, hatte mir der Arzt geraten, um meine leicht erhöhten Blutdruckwerte in den Griff zu bekommen. Ich zählte bis zwanzig, und dann schlug ich ein.
    Seitdem haben wir unsere Dienstzimmer im ehemaligen Volkspolizeipräsidium am Alexanderplatz eingerichtet und uns mit Schulungsmaterial versorgt, um unseren verunsicherten Ostberliner Kollegen rechtsstaatliche Polizeiarbeit vorzudozieren.
    »… insoweit ist eine vorläufige Festnahme nicht allein durch Indizien zu rechtfertigen, sondern nur – erstens – durch eindeutige, den Tatverdacht erhärtende Beweise und – zweitens – wenn Gefahr im Verzuge ist. Also entweder der Verdächtige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar oder plant, sich vor weiteren Ermittlungen durch Flucht zu entziehen, was natürlich ebenfalls zweifelsfrei belegt werden muss.«
    Der Unterricht erinnert an die Schule. Ein Klassenzimmer mit Tischen aus Resopal, das hier allerdings Sprelacart heißt. Auf den Stühlen hocken zwölf Kriminalbeamte wie Pennäler. Es gibt Streber, die immer gleich alles mitschreiben und sich eifrig zu Wort melden, es gibt die Gelangweilten und die Schwatzhaften. Und es gibt die Renitenten. Leute wie Kriminalrat Egon Beylich. Der ehemalige Major und langjährige Chef des Ostberliner Volkspolizeikriminalamts Mitte empfindet unser Hiersein als feindliche Okkupation. Er sieht sich als Verlierer der Geschichte und macht aus seiner Verachtung für die Sieger, für uns sogenannte Besserwessis, keinen Hehl. Im Augenblick mokiert er sich über meinen letzten Satz.
    »Humbug«, ruft er mit bitterem Lachen, »wie wollen Sie denn Fluchtgefahr zweifelsfrei belegen? Der eindeutige Nachweis einer Flucht ist doch erst dann erbracht, wenn der Täter längst über alle Berge ist.«
    »Eindeutige Anhaltspunkte«, erwidere ich, »können reisevorbereitende Maßnahmen sein, insbesondere wenn es sich dabei um den Verstoß gegen anderslautende Auflagen handelt. Der Beweis zum Fluchtvorsatz ist auch dann gegeben, wenn wir unseren Verdächtigen zum Beispiel beim Auschecken am Flughafen oder beim versuchten illegalen Grenzübertritt erwischen.«
    »Hört, hört«, höhnt Beylich, »versuchter illegaler Grenzübertritt! Ich dachte, so was gibt’s in Ihrer superfreiheitlichen Bundesrepublik gar nicht!«
    »Jedenfalls erschießen wir keine unbescholtenen Bürger, nur weil sie nach Spanien reisen wollen.« Polemisch werden kann ich auch. »Ein kleiner, aber feiner Unterschied zur bisherigen Praxis in Ihrem Land, oder sehe ich das falsch, Beylich?«
    »Das kommt auf den Klassenstandpunkt an, Hauptkommissar Knoop.«
    »Richtig, und in dieser Klasse stehe ich am Podium, um Ihnen das geltende Recht der Bundesrepublik zu verdeutlichen. Da die Deutsche Demokratische Republik in wenigen Tagen der Bundesrepublik Deutschland beitreten wird, gilt dieses Recht dann auch hier. Das ist die Lage, Beylich. Sie sollten sich damit abfinden, wenn Sie nach dem dritten Oktober Polizist bleiben wollen. Sonst noch irgendwelche Einwände?«
    »Seh ich so aus?«
    »Machen Sie sich keine Gedanken, Sie sehen aus wie immer.« Ich wende mich wieder den Übrigen zu und komme zurück zum Thema. »Über den Untersuchungsgewahrsam muss ein Haftrichter entscheiden. Ansonsten ist der Verdächtige spätestens achtundvierzig Stunden nach Festnahme wieder zu entlassen.«
    »Glauben Sie, das war bei uns anders?« Beylich beugt sich wütend vor. »Auch in der DDR gab es Haftrichter, stellen Sie sich vor! Auch ich konnte nicht einfach Leute einbuchten, nur weil mir danach war.«
    »Sie waren halt ein zu kleines Licht, Beylich.« Allmählich macht es mir Spaß, ihn zu provozieren. »Hätten Sie weiter oben in der Nomenklatura gesessen, hätte ein Anruf genügt, um Lieschen Müller oder mich oder wen auch immer grundlos zu verhaften.«
    »Ich hätte nur Sie verhaften lassen, Hauptkommissar.« Beylich lächelt grimmig. »Ab in die Einzelzelle, bei Brot und Wasser.«
    »Sehen Sie, so kommen wir uns doch schon näher. Und weil auch die Haftrichter in der DDR nur kleine Lichter waren und alles andere als unabhängig, haben sie zuweilen nach Absprache mit …«, ich überlege, »… mit diversen höheren Stellen entscheiden müssen. Zum Beispiel, um politisch missliebige Personen von der Straße fernzuhalten, ohne dass es gerichtsfeste Beweise gegen sie gab.«
    »Na und? Genutzt hat es uns trotzdem
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