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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung
Autoren: Julie Kagawa
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anderem Ende ein massiges altes Gebäude aufragte, das meine Leute und ich unser Zuhause nannten. Lucas, der nominelle Anführer unserer Gruppe, behauptete, es wäre früher eine sogenannte »Schule« gewesen, ein Ort, an dem Jugendliche wie wir jeden Tag in großer Zahl zusammenkamen, um etwas zu lernen – lange bevor die Vampire es ausgehöhlt, niedergebrannt und sein gesamtes Inventar zerstört hatten. Heute diente es immerhin noch einer Gruppe magerer Straßenkids als Unterschlupf. Die Ziegelmauern des dreistöckigen Baus wurden langsam brüchig, das Obergeschoss war bereits eingestürzt und in den Gängen türmte sich schimmeliger Schutt. Die verkohlten Flure und Zimmer waren feucht, kalt und düster, und jedes Jahr stürzten weitere Mauern ein, aber es war unser Heim, unser sicherer Hafen, den wir verteidigten bis aufs Blut.
    »Was denn?«, fragte ich zurück, während wir uns durch ein Loch in den rostigen Maschen schoben und über Gras, Unkraut und zerbrochene Flaschen hinwegstiegen, um zu unserem geliebten Zuhause zu kommen.
    »Letzte Nacht haben sie Gracie verschleppt. In die Stadt. Sie haben gesagt, dass irgendein Vampir seinen Harem vergrößern will und sie sie deshalb geholt haben.«
    Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. »Was? Wer hat dir das erzählt?«
    »Kyle und Travis.«
    Angewidert verdrehte ich die Augen. Kyle und Travis gehörten einer Bande Unregistrierter an, die zu unseren größten Rivalen zählte. Normalerweise ließ man sich gegenseitig in Ruhe, aber diese Geschichte klang so, als hätten unsere Konkurrenten sie sich ausgedacht, damit wir uns nicht mehr auf die Straße trauten. »Und den beiden glaubst du? Die verarschen dich doch nur, Stick. Sie wollen dir Angst machen, mehr nicht.«
    Wie ein Schatten huschte er hinter mir über den Platz, die wässrig blauen Augen wanderten ruhelos umher. Eigentlich hieß Stick ja Stephen, aber niemand nannte ihn mehr bei seinem richtigen Namen. Er war einige Zentimeter größer als ich, was angesichts meiner gut ein Meter fünfzig jedoch nicht besonders beeindruckend war. Stick sah aus wie eine klassische Vogelscheuche, mit strohblonden Haaren und verängstigtem Blick. Irgendwie schaffte er es, auf der Straße zu überleben, aber nur gerade so. »Sie sind ja nicht die Einzigen, die darüber reden«, beharrte er. »Cooper behauptet, er hat einige Blocks weiter ihre Schreie gehört. Was sagt dir das?«
    »Falls das stimmt? Dass sie dämlich genug war, nachts in der Stadt herumzuwandern, und wahrscheinlich gefressen wurde.«
    »Allie!«
    »Was denn?« Wir traten durch die kaputte Eingangstür in die nasskalten Flure der Schule. An einer der Wände waren verrostete Metallspinde aufgereiht, nur wenige standen noch aufrecht, die meisten waren verbeult und zertrümmert. Zielstrebig ging ich auf einen der unversehrten Schränke zu und riss mit einem Ruck die quietschende Tür auf. »Die Vampire hocken eben nicht ständig in ihren kostbaren Türmen. Manchmal machen sie auch Jagd auf lebende Beute, das weiß doch jeder.« Ich schnappte mir die Haarbürste, die ich hier aufbewahrte, weil in diesem Schrank der einzig brauchbare Spiegel des ganzen Gebäudes hing. Aus dem Glas starrte mir ein Mädchen mit schmutzigem Gesicht, glatten schwarzen Haaren und »Schweinsäuglein« entgegen, wie Rat so gern sagte. Wenigstens hatte ich nicht das Gebiss eines Nagetiers.
    Vorsichtig fuhr ich mir mit der Bürste durch die Haare, zuckte aber trotzdem jedes Mal zusammen, wenn sie an einem Knoten hängen blieb. Stick beobachtete mich missbilligend und entsetzt, bis ich schließlich erneut die Augen verdrehte. »Sieh mich nicht so an, Stephen«, wehrte ich stirnrunzelnd ab. »Wenn man nach Sonnenuntergang draußen unterwegs ist und von einem Blutsauger erwischt wird, ist man selber schuld, weil man besser drin geblieben wäre oder wenigstens besser aufgepasst hätte.« Ich legte die Bürste weg und schlug krachend den Schrank zu. »Gracie hat gedacht, nur weil sie registriert ist und ihr Bruder an der Mauer Wache schiebt, wäre sie vor den Vampiren sicher. Dabei sind sie gerade dann hinter dir her, wenn du dich sicher fühlst.«
    »Marc ist deswegen ziemlich fertig«, berichtete Stick fast schon mürrisch. »Seit dem Tod ihrer Eltern war Gracie alles, was er noch an Familie hatte.«
    »Nicht unser Problem.« Es kam mir gemein vor, das zu sagen, aber genau so war es. Im Saum kümmerte man sich um sich selbst und die engsten Familienangehörigen, aber mehr auch nicht. Meine Sorge
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