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Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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drang, noch kühl war und Gänsehaut auf meinen nackten Schultern erzeugte, hatte ich gerade ein gelbbraun kariertes Holzfällerhemd übergezogen.
    Ich las nicht wirklich. Das Buch, in dem ich eine bestimmte Passage hatte suchen wollen, lag, auf meinen Zeigefinger gespießt, auf der Decke. Darin geblättert hatte ich eigentlich nur, um mir das große Wohlbehagen noch bewußter zu machen, das mir an diesem Morgen zuteil wurde. Das reglose Liegen im Bett, der Absatz, der aufgespürt werden sollte, das Zählen der Glockenschläge … das alles diente einem überaus angenehmen Aufschub.
    Auf dem langen Sortiertisch in meinem Arbeitszimmer, eine Etage höher, lag für die kommenden hundert Tage ein neuer Arbeitsplan bereit, der am Pfingstmontag in Kraft treten sollte. Danach galt der heutige Tag als Tag Null, der morgige als Tag Eins und der einunddreißigste August als Tag Hundert. Der erste September: Abgabetag.
    Jedesmal diese Arbeitseinheiten von hundert Tagen … so ging es schon seit zwanzig Jahren. Aberglaube? Allüren? Zwanghaftes Festhalten an dezimalen Antriebsformen? Von allem etwas, denke ich, und dazu noch so einiges.
    Ich hatte durch Zufall entdeckt, daß ein Plan von hundert aufeinanderfolgenden Arbeitstagen (eine großzügig bemessene Zeitspanne und dennoch übersichtlich) wie maßgeschneidert für mich war. Ende ‘89 war ich mit Frau und Kind für ein paar Jahre in die Veluwe gezogen. Ich machte mir weis, für mein neues Buch, das in Amsterdam spielte, sei es gut, für eine Weile auf Abstand zu der Romankulisse zu gehen. Tatsächlich, aber das gab ich nicht zu, hatte ich meine kleine Familie mit dem eineinhalbjährigen Tonio auf dem Land in Sicherheit bringen wollen. Wenn der Kleine alt genug für die Grundschule wäre, würden wir wohl wieder in die Stadt zurückkehren.
    Bereits nach wenigen Monaten, im Frühjahr ‘90, gerieten wir in Konflikt mit dem Vermieter, dessen Haus durch eine Glasgalerie mit unserem verbunden war. Die Situation eskalierte zu der Art von psychologischer (und gelegentlich auch physischer) Kriegsführung, derentwillen ich wirklich nicht aus Amsterdam hätte wegziehen müssen. Um mein Buch zu Ende schreiben zu können, das im Herbst ‘90 erscheinen sollte, war ich gezwungen, mich anderweitig nach einem Unterschlupf umzusehen.
    Ich entschied mich für De Pauwhof, eine alte Künstler- und Wissenschaftlerkolonie in Wassenaar, wo ich am 23. Juni mit der Endfassung von Der Anwalt der Hähne begann. Am ersten Oktober saß ich mit dem vollständigen Typoskript des verfluchten Buches im Taxi nach Loenen in der Veluwe, wo ich Frau und Kind abholen wollte, um sie nach Amsterdam zurückzubringen. Auf der Rückbank rechnete ich aus, wie lange ich in Wassenaar an der Fertigstellung des Romans gearbeitet hatte. Nulla dies sine linea – dafür hatten Panik und Schuldgefühl schon gesorgt. Ich kam exakt auf hundert Tage, inklusive der Wochenenden. Ein zwingendes Ritual war geboren.
    Für die darauffolgenden zwanzig Jahre galt: Wenn ich für einen Roman zwei oder drei Fassungen benötigte, markierte ich zwei- oder dreimal hundert zusammenhängende Tage im Kalender. So hatte das Buch ( Kwaadschiks ), an dem ich seit dem Herbst 2009 arbeitete, bereits zweimal einen solchen Zeitblock verschlungen. Ende April hatte ich dem Verleger ein vorläufiges (aber komplettes) Typoskript überreicht. Während der letzten acht Maitage plus den sich anschließenden drei Sommermonaten würde ich die endgültige Fassung erstellen.
    Die Ausarbeitung eines solchen Plans bedeutete, samt dem dazugehörigen Aberglauben: den Tagen Namen geben. Aus einem Kalender tippte ich hundert Daten ab und benannte sie. Tag 18, Tag 19, Tag 20 … Tag 92, Tag 93, Tag 94 … Einige erhielten Beinamen, je nach ihrem Verdienst für die Sache, aber erst im nachhinein.
    Vorab Daten zu beanspruchen und beherrschen zu wollen, hieß das nicht, die Götter zu versuchen? Von dem Moment an, in dem ich sie numeriert hatte, waren sie als Blankozeit brauchbar, doch von neutralen Tagen konnte keine Rede mehr sein: Ich hatte sie annektiert.
    Jeder neue Plan begann stets mit einem Tag Null. In diesem Fall war das der 23. Mai, heute, Pfingstsonntag. Eine herrliche Art Niemandsland in der Zeit. Damit am Morgen von Tag Eins keine Schwellenangst entstand, sorgte ich immer dafür, daß Tag Null im Hinblick auf die Produktion, ausgedrückt in der Anzahl der geschriebenen Seiten, bereits möglichst nahe an den angestrebten Durchschnitt herankam. Zugleich
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