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Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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kleinen blinden Mannes sich richtig öffneten, sahen sie einen genauso rund und konzentriert an wie die o‘s, die fettgedruckt auf der Geburtsanzeige standen.
    Mein Kosename für ihn wurde wie von selbst Totò. Er lachte dann sabberiger, als wenn er seinen richtigen Namen hörte, deswegen würde er mich später also wohl nicht ermorden. Nachdem einige Jahre später der Mafiaboß Totò Riinaauf Sizilien verhaftet worden war, sagte ein Besucher, der mich den Kleinen so ansprechen hörte: »Wie kannst du nur deinen Sohn nach einem Mafioso nennen.«
    »Bis gestern hatte ich noch nichts von diesem Riina gewußt. Ich habe immer an Antonio de Curtis gedacht. Den neapolitanischen Komiker. Künstlername Totò. Er hat in Uccellacci e uccellini von Pasolini mitgespielt. Ein phantastischer Clown.«
    Wenn Tonio in späteren Jahren irgendeinen Blödsinn angestellt hatte, nannte ich ihn Totò le Héros, nach dem Film von Jaco van Dormael. Dann lachte er noch lauter, allerdings auch etwas nervös, denn er wußte aufgrund meiner Erklärung, daß er als »Held« bezeichnet wurde, und das konnte alles mögliche bedeuten.
    Mirjam hatte in der Anfangszeit ihren eigenen, eher an van den Vondels Werk erinnernden Kosenamen für ihn: Tonijntje. Wenn sie den aussprach, legte sie so viel Liebe in ihre Stimme, daß er wirklich nichts mehr zu befürchten hatte, und das wiederum ließ er uns selbstgefällig spüren.
    »Na gut, noch fünf Minuten, Tonijn, aber dann mußt du wirklich kommen.«
    »Ich bin traurig.«
    »Wegen Runnertje bestimmt …« (Runner war sein Russischer Zwerghamster, den er vor Monaten tot in der Holzwolle gefunden hatte. Von Zeit zu Zeit, wenn es sich ergab, trauerte Tonio um ihn. So hatte er zusammen mit seinem Gitarrenlehrer ein kurzes Requiem für Runner komponiert.)
    »Ich find es so schlimm, daß er tot ist.«
    »Traurig, aber du mußt nicht weinen.«
    »Ich spüre Tränen, die du nicht siehst.«
4
     
    Bei all meiner Angst vor seiner Verletzbarkeit ist mir nie aufgefallen, daß die beweglichen o‘s, die mir so lebendig aus Tonios Namen zulachten, typographisch dieselben sind wie die, die mich aus der starren Kongruenz des Wortes » dood «, Tod, anstarren.
    Als Mirjam und ich ihn das letzte Mal sahen, ragten zwei Drainageröhrchen aus seiner Stirn, ein kurzes und ein etwas längeres, wie Hörner. Sie waren dort einige Stunden zuvor angebracht worden, um die überschüssige Flüssigkeit aus seinem anschwellenden Gehirn abzuleiten. Bei allem, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, war in meinem eigenen Gehirn offenbar noch Platz für eine Szene aus dem Film Camille Claudel , den ich vor Jahren zusammen mit Mirjam gesehen hatte. Ich wollte sie daran erinnern, aber nein, nicht dort, nicht in dem Moment, unmöglich.
    Der Bildhauer Rodin mustert eingehend eine kleine Nashornskulptur. »Es heißt Totò«, sagt eine der Claudel-Schwestern. »Wenn man es von vorn anschaut, hat man seinen Namen.«
    Zwei verschiedene Hörner, zwei gleiche Augen. Obwohl das eine Lid ein wenig hochkroch, konnte man getrost sagen, daß Tonio die Augen geschlossen hielt, so daß das Bild nur zum Teil stimmte.
5
     
    Mit »Antonio« durfte man ihm nicht kommen, aber ansonsten mochte er seinen Namen, inklusive aller Ruf-, Schmeichel- und Kosevarianten. Nur wenn er wieder einmal, bei einer Anmeldung in der Schule oder anderswo, nach seinen übrigen Vornamen gefragt worden war, kam er wütend nach Hause. Ein aufgebrachter Tonio kreuzte die Arme vor der Brust, in einer Art unvollständiger Verschränkung, bei der die gekrümmten Handgelenke wie zornige Buckel hochstanden.
    »Warum hab ich nur einen Vornamen?«
    »Ach, mein Junge, der Name Tonio ist schon so schön, soperfekt … warum sollte man ihn durch einen zweiten verschandeln?«
    »Adri, jeder hat zwei Vornamen. Manche Kinder in der Schule haben sogar drei. Ich nur einen. Du hast auch drei.«
    »O ja, und dabei kann ich noch von Glück sagen, daß sie keinen vierten drangehängt haben. Maria war damals sehr in Mode. Besonders für Jungs.«
    Eines Tages, als er schon etwas größer war, habe ich ihm die Sache mit dem einen Vornamen erklärt. »Es ist meine Schuld, Tonio. Es liegt an mir, daß du nicht mehr Vornamen hast.«
    Eine Selbstbezichtigung seines Vaters, davon wollte Tonio kein Wort verpassen. Er war sofort Feuer und Flamme und strahlte vor Vorfreude. »Dann will ich das jetzt endlich mal hören.«
    »Gott, was tu ich mir da wieder an. Nun gut. Mama und Tante Hinde, wie heißen sie
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