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Tödlicher Steilhang

Tödlicher Steilhang

Titel: Tödlicher Steilhang
Autoren: Paul Grote
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der mit nichts angefüllt war außer Frustration und Nichtwissen. Es war ihm mit einem Mal gleichgültig, dass Sauter weggefahren war, obwohl er gehofft, ja damit gerechnet hatte, in ihm einen Gesprächspartner zu finden, mit dem er über seine Sorgen reden könnte. Aber er hatte keine Sorgen, nicht einmal das. Wie kann man über etwas reden, was nicht da ist, über das Nichts?
    Wie eine aus der Form geratene Plastiktüte, so fühlte sich Georg, viel zu leicht, dünn zum Zerreißen, zerknittert, eine Tüte, bei der man sich fragt, ob man sie wegwerfen oder sie als Mülltüte benutzen sollte. Man schaute rein – und es war nichts drin, weder Groll noch Wut auf die Menschen, die fürseine Lage verantwortlich waren, wenn sie es denn waren und nicht er selbst, auch keine Verachtung für sich selbst, kein Hass auf das Leben, von Hoffnung keine Spur, nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen könnte. Und nicht einmal Trauer um verpasste Gelegenheiten, Ärger über falsche Entscheidungen oder unüberlegte Schritte. Er hatte das Gefühl, alles hinter sich zu haben und nichts vor sich, keine Lust auf niemanden und nichts. Trotz des blauen Himmels und der warmen Luft zog es ihn nicht an den Fluss, es zog ihn nicht in die Weinberge, er war nicht neugierig auf den Keller, das Weinlager, auf Sauters Weine, über die sie bei ihren bisherigen Treffen geredet und die sie probiert hatten.
    Georg Hellberger betrachtete die Fassade des Hauses gegenüber, ohne sie wirklich zu sehen. Es lag in der Häuserzeile näher zum Fluss, Sauters Anwesen lag in der dritten Zeile. Da traten zwei kleine Jungen aus dem grün gestrichenen Hoftor schräg gegenüber, jeder mit einem Ranzen. Den Kindern folgte die Mutter, sie schob den älteren in den Wagen, es war ein alter Kombi, und strich dem jüngeren übers Haar und half ihm, den Ranzen zu verstauen. Der Junge, ein Blondschopf, schaute kurz herüber und musterte Georg, dann lächelte er und hob die Hand, als wollte er winken.
    Warum macht er das, wenn er mich gar nicht kennt, dachte Georg und fühlte einen heftigen Schmerz in der Brust. Er erschrak, er dachte an einen Infarkt, Männer in seinem Alter redeten bereits darüber, selten zwar, doch mit einer unausgesprochenen Sorge. Dann begriff er, dass es kein physischer Schmerz war. Er schaute auf die Uhr. Das war es, es war die Zeit, es war genau die Zeit, an der bis vor wenigen Tagen seine beiden Töchter zu ihm in den Wagen gestiegen waren und er sie auf dem Weg ins Büro vor der Schule abgesetzt hatte. Bis vor wenigen Tagen, bis …
    Er wollte die Erinnerung beiseiteschieben. Auch die Fahrten zur Schule waren immer komplizierter geworden, besonders seit Jasmin sich über den Polo mokierte, der ihr »peinlich«war, die Freundinnen wurden mit größeren Wagen abgeliefert. Rose hatte meistens geschwiegen, in sich gekehrt, sie genoss es, sich lächelnd auf den Rücksitz zu lümmeln, gefahren zu werden und träumend die Welt zu betrachten. Was sie dabei dachte, war ihm bis heute ein Rätsel.
    Den schwarzen Geländewagen, den Muttipanzer, wie sein Freund Pepe das Benzin fressende Ungeheuer nannte, den brauchte ihre Mutter – für die Fahrten zum Tennisplatz, zum Shoppen oder um ihn auf dem Parkplatz vor dem Fitnesscenter abzustellen. Als er erfahren hatte, dass sie häufig sogar einen Taxifahrer beauftragt hatte, die Mädchen von der Schule abzuholen, und es nicht einmal selbst tat (und ihnen verboten hatte, darüber zu reden), war er ausgerastet, hatte Miriam zum ersten Mal angeschrien und sich danach kotzjämmerlich gefühlt. Wie üblich hatte der Streit in tödlichem Schweigen geendet.
    Der Schmerz in der Brust war beunruhigend, Georg zwang sich, tief und ruhig zu atmen. Auch dieser Schmerz hatte eigentlich nichts mit ihm zu tun, genauso wenig wie alles andere, das ihn umgab. Der Schmerz war weit weg, er hatte ihn hinter sich gelassen, er fühlte ihn nicht.
    Er dachte an den Winzer, der ertrunken war, und glaubte, etwas wie Überdruss in sich zu spüren, Überdruss – das war doch schon mal was, zumindest mehr als nichts. Er stand noch immer auf der Straße, dem Haus zugewandt, aus dem die beiden Jungen herausgekommen waren und wo ein Auto mit Mutter und Kindern anfuhr und in dieselbe Richtung verschwand, in die auch Sauter davongefahren war. Links von ihm stand das Haus, in dessen zweitem Stock er unter dem Dach das Gästeapartment bezogen hatte, zwei Räume mit frei stehenden Balken, ein Schlaf- und ein Wohnzimmer mit Schlafcouch und ein
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