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Tödlicher Steilhang

Tödlicher Steilhang

Titel: Tödlicher Steilhang
Autoren: Paul Grote
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sich, so schnell, wie die Weinbergschnecke die Fühler einzog. So, wie er sie anschaute, betrachtete auch sie ihn, er hatte es bei der Verhandlung im Autohaus gespürt. Viel Geduld war nötig  – mit ihr und auch mit Karsten, der sich im Gegensatz zu seinem Bruder nur zaghaft öffnete und alles mit Fußball kompensierte, wütend nach dem Ball trat oder ihn abends vors Bett legte und vom Stürmerdasein träumte. Kilian hingegen sah sich als den großen Gärtner, der die Mosel und ihre Weingärten zum Blühen bringen wollte.
    Die Jungen gaben sich auf Georgs Vorschlag hin, sie in Bernkastel zum Essen einzuladen, mit Blick auf die Mosel, die Ausflugsschiffe, den touristischen Betrieb, cool. Leider entpuppte sich das, was er für eine gute Idee gehalten hatte, als Pleite. Alle am Tisch sprühten vor bester Laune, er hingegen bemühte sich quälend, gute Stimmung vorzuspielen. Wie ein Raubvogel auf der Jagd nach Beute war sein schlechtes Gewissen im Sturzflug über ihn hergefallen, es war wieder das Gefühl, Verrat an seiner Familie zu begehen, die nur mehr als Fiktion existierte. Es überkam ihn immer, wenn er begann, sich in Susannes Nähe und mit ihren Jungen wohlzufühlen, in einer Situation, die nichts mit seinem bisherigenLeben zu tun hatte. Sie spürte es, was ihm doppelt unangenehm war.
    Sich den Doctorgarten anzusehen, den berühmtesten Weinberg der Mosel, einen der berühmtesten in Deutschland überhaupt, war für Kilian ein guter Vorschlag, sein Bruder hingegen murrte, aber er machte mit, »nur heute, weil er uns zum Essen eingeladen hat«, und Georg war für die Ablenkung dankbar. Weinberge brachten ihn immer auf bessere Gedanken.
    Er   – damit war Georg gemeint. Karsten sprach seinen Vornamen nie aus, er ging immer noch indirekt mit ihm um, meistens über seine Mutter, und wich seinem Blick aus, er beobachtete ihn, als könne Georg seiner Mutter ein Leid antun. Mit seiner Meinung hielt er hinter dem Berg. Manche Kinder hatten ein erstaunlich feines Gespür, andere wiederum ließen sich mit Leichtigkeit bestechen, und wieder andere erkannten jeden Vorteil.
    Den Namen »Bernkasteler Doctor« hatte der Weinberg oberhalb des Städtchens erhalten, weil seinem Wein einer Sage nach heilende Wirkung zugeschrieben wurde. Sie verließen den Ort in Richtung Zeltingen, bogen dann aber ab und fuhren rechter Hand die Wirtschaftswege hinauf. Oben angekommen, genossen sie den grandiosen Blick über das Städtchen auf beiden Seiten der Mosel. Die Sonne flimmerte auf dem Wasser, die Burgruine Landshut auf dem Berg gegenüber stand diffus im Gegenlicht, und flussabwärts tat sich das weite Tal auf.
    Wie krank musste man sein, dort eine der größten Brücken Deutschlands errichten zu wollen? War es Ausdruck von Größenwahn? War es Dummheit, Ignoranz oder Gier nach Profit? Oder Arroganz dem Bürger gegenüber, dem man Stärke demonstrieren wollte? Wahrscheinlich hatte der Mensch den Wein erfunden und kultivierte ihn, um sich selbst besser zu ertragen.
    Susanne zuckte mit den Achseln, sie schien Georgs Gedanken zu lesen.
    »Sie wird gebaut, und wenn sie uns alle dafür vertreiben müssen, Lastwagen sind wichtiger als Menschen, Zahlen sowieso. Wir werden damit leben müssen. Schau in die andere Richtung.« Sie wies auf den Boden, auf dem sie standen. »Von der Beschaffenheit her unterscheidet sich der Doctor nicht sehr von unseren Lagen, es ist verwitterter Tonschiefer, nur etwas lehmiger und reicher an Nährstoffen. Das Besondere an ihm sind seine Ausrichtung und die Einbettung in diese Landschaft, das schafft ein spezielles Mikroklima.«
    Georg war dem Begriff mehrmals begegnet, aber wie es entstand, was es bewirkte, war ihm unklar.
    »Da ist einmal die Südwestlage«, erklärte Susanne, ganz in ihrem Element. »Die Reben bekommen den ganzen Tag über Sonne, und das die gesamte Vegetationsperiode über. Wichtig ist auch die Neigung des Hangs von fünfunddreißig bis fünfundvierzig Grad, das heißt, der Winkel, in dem die Sonne auf die Laubwand trifft, macht die Weine der Steillagen so besonders. Und der Boden heizt sich auf. Man sieht es auch daran, dass hier der Schnee im Frühjahr zuerst schmilzt. Wenn alles noch weiß ist, dann ist der Doctor bereits schneefrei.«
    »Bis auf die Ausrichtung sind deine und Sauters Weinberge also ähnlich«, bemerkte Georg.
    »Nein, hier gewinnt man pro Stock vielleicht eine Flasche Wein, die Stöcke sind zum Teil hundert Jahre alt, viermal so alt wie meine. Hier kommt hinzu, dass die
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