Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todesopfer

Todesopfer

Titel: Todesopfer
Autoren: Sharon Bolton
Vom Netzwerk:
Sie der Blutbank Bescheid. Ich bin in zwanzig Minuten da.«
    Am anderen Ende wurde aufgelegt, gerade als mir wieder einfiel, dass Kenn Gifford der Chefarzt der Chirurgie und der ärztliche Geschäftsführer des Franklin Stone Hospital in Lerwick war. Mit anderen Worten, mein Boss. Die letzten sechs Monate war er in einem Forschungssemester gewesen; zufällig hatte er die Klinik ziemlich genau zu der Zeit verlassen, als ich auf den Shetlands angekommen war. Obwohl er meiner Einstellung zugestimmt hatte, waren wir uns niemals begegnet. Jetzt würde er zusehen, wie ich einen schwierigen Eingriff durchführte, wobei es durchaus möglich war, dass die Patientin dabei starb.
    Und ich hatte gedacht, dieser Tag könne gar nicht noch schlimmer werden.

2
    Fünfundzwanzig Minuten später trug ich OP-Kluft, hatte mich gewaschen und strebte auf OP 2 zu, als ein Arzt im Praktikum mich aufhielt.
    Â»Was ist?«
    Â»Wir haben kein Blut«, antwortete der junge Schotte. »Die Bank hat kein AB negativ mehr.«
    Ich starrte ihn an. Was zum Teufel würde denn noch alles schiefgehen? »Das soll wohl ein Witz sein«, brachte ich heraus.
    Es sollte kein Witz sein. »Es ist ’ne seltene Blutgruppe. Vor zwei Tagen hatten wir einen Notfall. Wir haben eine Einheit, das ist alles.«
    Â»Na, dann besorgen Sie um Himmels willen mehr!« Zusätzlich zu allem, was ich an diesem Tag durchgemacht hatte, war mir ganz schlecht vor Nervosität wegen der bevorstehenden Operation. Ich fürchte, unter solchen Umständen habe ich es nicht so mit der Höflichkeit.
    Â»Wissen Sie, ich bin kein Vollidiot. Wir haben welches bestellt. Aber der Hubschrauber kann im Augenblick nicht starten. Der Wind ist zu stark.«
    Ich warf ihm einen wütenden Blick zu und stieß die Tür zum OP genau in dem Moment auf, als ein riesiger Mann in hellblauer OP-Kleidung gerade den letzten Schnitt in Janets Gebärmutter machte.
    Â»Absauger«, verlangte er. Dann nahm er der OP-Schwester einen Absaugtubus aus der Hand und führte ihn ein, um das Fruchtwasser zu entfernen.
    Trotz des Mundschutzes und der OP-Haube, die er trug, konnte ich sofort erkennen, dass Kenn Gifford außergewöhnlich aussah; nicht schön, eigentlich ganz im Gegenteil, aber trotzdem
bemerkenswert. Die Haut, die ich über dem Mundschutz sehen konnte, war blass, die Sorte Haut, bei der man die Blutgefäße darunter erkennen kann und die ab einem bestimmten Alter ständig rosa aussieht. So alt war er noch nicht, doch im OP war es heiß und sein Gesicht deshalb gerötet. Seine kleinen und tief in den Höhlen gelegenen Augen waren aus dieser Entfernung kaum zu erkennen und selbst aus der Nähe von einer unbestimmten Farbe. Sie waren weder blau noch braun, auch nicht grün oder braungrün. Eher dunkel als hell, Grau kam der Wahrheit vielleicht am nächsten, und doch sah ich ihn nicht an und dachte, graue Augen. Große Halbmondschatten lagen darunter.
    Er erblickte mich und trat zurück, die Hände in Schulterhöhe vor dem Körper; dann bedeutete er mir mit einer Kopfbewegung, näher zu treten. Ein Sichtschutz war aufgestellt worden, um Janet und ihrem Mann die blutigeren Aspekte der Operation zu ersparen. Ich schaute nach unten, fest entschlossen, an nichts zu denken als an die Aufgabe, die vor mir lag. Besonders nicht an Gifford, der unangenehm dicht bei mir stand, gleich hinter meiner linken Schulter.
    Â»Ich brauche ein bisschen Gegendruck«, sagte ich, und Gifford bewegte sich um den Tisch herum, so dass er mir gegenüberstand.
    Im Geiste ging ich die übliche Checkliste durch, überprüfte die Lage des Kindes, die Position der Nabelschnur. Dann schob ich eine Hand unter die Schulter des Babys und hob es sanft an. Gifford begann, auf Janets Bauch zu drücken, als meine andere Hand tiefer hineinglitt und das Hinterteil des Kindes umfasste. Meine Linke glitt aufwärts und legte sich um Hinterkopf und Nacken, und dann zwang ich mich, sehr langsam vorzugehen, und hob den schleimbedeckten, blutverschmierten kleinen Körper ganz sanft aus seiner Mutter heraus ins Leben. Ich erlebte diese Sekunde purer Emotionen – gleichzeitig Triumph, freudige Erregung und tiefste Traurigkeit –, die mein Gesicht brennen, meine Augen feucht werden und meine Stimme zittern lässt. Das geht schnell vorüber. Vielleicht passiert es eines Tages überhaupt nicht
mehr; vielleicht gewöhne ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher