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Todesmelodie

Todesmelodie

Titel: Todesmelodie
Autoren: Christopher Pike
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war diesmal sogar noch atemberaubender als ein paar Wochen zuvor, die ganze Schlucht leuchtete im Glanz der untergehenden Sonne, und – anders als beim letztenmal – es war absolut windstill. Ein tiefer Friede schien über allem zu liegen. Das Rauschen des Flusses klang weit entfernt obwohl er nur hundertfünfzig Meter unter ihnen durch die Schlucht schoß.
    Chad verbot Sharon, selbst an der Felswand nach dem Loch zu suchen, das der Haken hinterlassen hatte – er sagte, es sei für Unerfahrene wie sie schon unter normalen Umständen gefährlich, und das schwächer werdende Licht vergrößere noch das Risiko. Sie stritten sich mehrere Minuten lang, bevor sie einen Kompromiß schlossen. Chad würde sich hinunterlassen, um das Loch zu finden, so daß Sharon ruhig schlafen konnte, aber sie würden das Seil bis zum nächsten Morgen hängen lassen, und dann konnte sie selbst einen Versuch wagen. Sie hatte so viel darüber reden hören, daß sie endlich einen Beweis haben wollte, den sie sehen und anfassen konnte.
    Ist Anns durchgeschnittene Kehle noch kein ausreichender Beweis für mich? dachte sie traurig.
    Chad sicherte seine Leine an demselben Stein, den Paul damals benutzt hatte. Er besaß ein gesundes Vertrauen in seine Fähigkeiten und wollte nicht, daß Sharon ihm das Seil nachreichte, so wie er es für seinen Bruder getan hatte.
    Weil es windstill und noch hell genug war, konnte Sharon ohne große Gefahr an der Kante bleiben und Chad beim Abstieg beobachten. Sie tat es kniend, denn im Stehen verursachte es ihr Unbehagen, in den hundertfünfzig Meter tiefen Abgrund zu blicken. Es schien ihr unvorstellbar, daß Ann den Mut zu einem solchen Sprung gehabt hatte!
    »Sei vorsichtig«, rief sie Chad zu, während er sich immer weiter hinunterließ. Das Seil war zweimal um seine Taille geschlungen und durch einen Gürtel gesichert, an dem einige Stahlhaken befestigt waren. Er sprang behende wie eine Katze von einem Felsspalt zum nächsten.
    »Das ist der wichtigste Grundsatz für jeden Kletterer«, sagte er.
    »Wie bist du überhaupt auf diesen Sport gekommen?«
    »Ich bin eben verrückt.«
    »Mußt du so schnell runtergehen?« fragte sie besorgt.
    »Das ist doch nicht schnell! Ich glaube, Paul hat die meiste Zeit ungefähr fünfzehn Meter unterhalb der Kante verbracht – wahrscheinlich war der Haken dort befestigt, bei dem kleinen Vorsprung.«
    »Ich glaube, ich kann den Vorsprung sehen«, erwiderte Sharon. »Aber er ist winzig! Wie kann man darauf bloß stehen?«
    »Man muß eben verrückt sein«, gab Chad zurück.
    Er erreichte den kleinen Absatz, gerade als die letzten Sonnenstrahlen hinter der Felswand auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht verschwanden, deren Schatten jetzt nach ihnen zu greifen schienen. Die Sonne würde bald untergehen, die hereinbrechende Nacht alles in Dunkelheit tauchen. Sharon konnte nicht aufhören, an den dunklen Strom zu denken, der im Verborgenen unter dem Whipping River entlangfloß. Ihr schien die ganze Zeit über, als ströme auch in ihren Gedanken ein solcher verborgener Fluß, der versuchte, an die Oberfläche zu gelangen und sie vor etwas zu warnen; aber wovor?
    »Bitte sei vorsichtig!« sagte sie.
    Chad verlagerte behutsam sein Gewicht auf dem Vorsprung. »Das sagtest du schon!«
    »Siehst du was?«
    »Ich schaue mich um«, erklärte er.
    »Du hast nicht mehr lange Licht«, warnte Sharon ihn.
    »Ich weiß.« Chad suchte die Felswand jetzt sowohl mit Blicken als auch mit seinen tastenden Händen ab. »Jetzt sehe ich es!« rief er plötzlich.
    »Ist es wirklich da? Bist du sicher?«
    »Ja!«
    Sharon sog schaudernd den Atem ein. »Also ist es wahr!«
    »Ich denke, ja«, sagte Chad.
    »Dann glaubst du wirklich, daß Paul Ann die Kehle durchgeschnitten hat?«
    »Das muß er wohl getan haben.«
    »Aber – könnte dieses Loch nicht auch von jemand anderem stammen?«
    »Das kann sein«, meinte Chad. »Ich komme jetzt wieder hoch.«
    »Kann ich dir helfen?«
    »Nein, das geht schon.«
    Chad zog sich ohne Schwierigkeiten wieder hoch und über den Klippenrand – dafür, daß er so dünn war, hatte er bemerkenswert starke Arme! Er willigte ein, ihre Hand zu nehmen, als er sich aufrichtete, und Sharon überfiel für einen Moment die Angst, über die Kante gezogen zu werden – sie hätte auf ihn hören und ihm nicht ihre Hilfe aufdrängen sollen!
    Sie begann auch daran zu zweifeln, ob es Sinn hatte, am nächsten Morgen selbst noch einmal nach dem Loch in der Felswand zu
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