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Todesbrut

Todesbrut

Titel: Todesbrut
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Dann hielt er die Rechte Benjo hin. »Ich bin der Charlie.«
    Benjo nahm die Hand und nannte seinen Namen.
    »Benjo? Wer um alles in der Welt nennt einen denn Benjo? Das klingt wie Jo-Jo.«
    »Ich heiße Benjamin und die meisten nennen mich eben Benjo.«
    »Und wieso nicht Ben?«
    »Keine Ahnung. Habe ich nie drüber nachgedacht.«
    »Du bist töffte«, lachte Charlie. »Du gefällst mir. Willz’n Pils? Ich geb auch ein aus.«
    Benjo winkte ab.
    »Klar!« Charlie nickte verständnisvoll. »Du hast was Besseres zu tun. Junge, wenn du wüsstest, wie sehr ich dich beneide.«
    Als Benjo zum Tisch zurückging, machte der Kapitän eine Durchsage. Backbord auf der Sandbank seien Seehunde zu sehen. Benjo sah, wie Margits Sohn mit seinem Vater nach rechts zum Bullauge lief und sich hochheben ließ, um besser Ausschau halten zu können. Aber Dennis wurde schnell unruhig, denn er fand die Seehunde nicht.
    »Wo sind sie denn, Papa? Wo?«, schrie er ungeduldig.
    Kai Rose hielt die Beine von Dennis fest, weil der wie verrückt strampelte. »Du bist wie deine Mutter!«, schimpfte er. »Nun hab doch mal ein bisschen Geduld!«
    Margit hatte alles verstanden und vermutlich war Kais Antwort sogar für ihre Ohren bestimmt gewesen. Es war ein altes, ihr gut bekanntes Spiel. Alle schlechten Eigenschaften hatten die Kinder von ihr. Alle guten natürlich von ihrem Vater.
    Sie stand auf, ging über das Deck, blieb ganz nah hinter Dennis und Kai stehen, so als ob sie mit ihnen flüstern wollte, aber dann sagte sie laut und belehrend:
    »Backbord ist links und Steuerbord ist rechts. Wenn du die Seehunde sehen willst, Dennis, dann musst du dort rüberkommen, wo Mami sitzt. Wenn du dich auf den Stuhl stellst, kannst du die Seehunde sehen. Komm …«
    Dennis ging nicht mit ihr. Geschlagen kehrte Margit zu Benjo zurück, wie eine Boxerin nach einer verlorenen Runde in die Trainerecke.

 
    9 Die Fernsehnachrichten machten Tim Jansen euphorisch. Es hielt ihn kaum im Rollstuhl. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er wieder so viel Leben in sich, dass er am liebsten aufgesprungen wäre, um zu tanzen, so wie er es vor dem Unfall oft bis zur völligen Erschöpfung auf den Open-Air-Konzerten an fast jedem Wochenende getan hatte. Er wollte hüpfen, springen und schreien, headbangen im Rhythmus der Nachrichten.
    Es war geschehen. Er hatte es immer und immer wieder prophezeit. Jetzt würden ihm alle glauben müssen, seine Schwester und sein ignoranter Vater und der Rest der Welt.
    Seine letzte Videobotschaft lautete: Der Mensch ist der Teufel des Tieres geworden.
    Nur diese provozierenden Worte, sonst nichts. Kein Geschwätz. Es war alles längst gesagt. Die Bilder sprachen für sich. Hühner, zusammengepfercht in der Legebatterie. Er hatte sie gefilmt, die sogenannte »artgerechte« Käfighaltung, mit der sein Vater sechzigtausend Lebewesen völlig legal quälte. Und er hatte die Bilder ins Netz gestellt.
    Weil er nicht tanzen konnte und ihn die gelähmten Beine im Rollstuhl festhielten, drehte er die Räder mit den Händen, fuhr vor und zurück, schaffte eine dreifache Schraube, obwohl der Teppich im Büro bremste. »Handgeknüpft«, wie sein Vater gern betonte. Eine teure Rarität. »Kinderarbeit, an der Blut klebt«, nannte Tim das.
    An seinem Rollstuhl hatte er rechts eine Digitalkamera angebracht und links einen Laptop, sodass er seine Filme und Bilder sofort verschicken und ins Netz stellen konnte. Über Skype sprach er fast täglich mit Kira, seiner Schwester. Er wählte sie an und sofort erschien ihr Bild auf seinem Bildschirm.
    Sie sah geschafft aus, fettige Haare, schwarze Ringe unter den Augen. Sie saß in Mumbai in der Flughafenhalle des Chhatrapati Shivaji International Airport und war kurz davor zu heulen. Seine Schwester, die immer alles so toll im Griff hatte und in Indien bei einem Entwicklungshilfeprojekt mitmachte, natürlich in einer Nichtregierungsorganisation, einer NRO, die sie aber immer englisch NGO, für Non Governmental Organization, aussprach, wusste nicht weiter. Er genoss den Augenblick fast. Fast, denn ein bisschen tat sie ihm auch leid.
    Er kannte sie nur stark und überlegen und reflektiert. Er war immer derjenige, der auf Hilfe angewiesen war, der Mist baute, in der Schule Schwierigkeiten hatte und um den man sich Sorgen machen musste.
    »Hey, meine Große, wie siehst du denn aus, was ist los? Ich hab schon Tee aufgesetzt. Ich dachte, du bist gleich hier.«
    Seine Worte munterten sie nicht auf. »Ich häng seit zwölf
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