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Todesacker

Todesacker

Titel: Todesacker
Autoren: Stephen Booth Thomas Bauer
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verpasste Gelegenheiten, an Freunde und Verwandte, die von ihnen gegangen waren, um Weihnachten an einem besseren Ort zu feiern.
    Nein, in der festlichen Zeit ging es nicht nur um Frieden und Wohlwollen, zumindest heutzutage nicht mehr. Das konnte einem jeder bestätigen, der bei einem der Notdienste arbeitete. Für das Leben all jener armen, bemitleidenswerten und gescheiterten Menschen, die von Monat zu Monat die Polizeireviere und Gerichte füllten, bedeutete Weihnachten keinen großen Unterschied.
    Ein paar Tage zuvor hatten zwei Männer im Weihnachtsmannkostüm eine Bausparkasse in Chesterfield überfallen. Sie hatten in ihren pelzbesetzten Ärmeln Baseballschläger versteckt gehabt, und ein Kunde war mit einem Schädelbruch im Krankenhaus gelandet, nachdem er ihnen in die Quere gekommen war. Die Rate der Selbstmorde und der häuslichen Gewalttaten schnellte zu dieser Jahreszeit in die Höhe, die Zahl der Verkehrsopfer vervielfachte sich, und auf den Straßen von Edendale wimmelte es von grölenden Betrunkenen. Die Zellen in der West Street waren voller denn je, die Krankenhäuser platzten aus allen Nähten, und die Reinigung der Polizei-Kleinbusse mit dem Dampfstrahler war ein Vollzeitjob. Jede Menge ho, ho, ho.
    Vielleicht war sie aber auch ein wenig voreingenommen. Sie selbst hatte Weihnachten seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gefeiert. Zumindest nicht auf traditionelle Weise mit Papierhut und Knallbonbons, Truthahn und Mistelzweig. In der Ecke ihrer kleinen, feuchten Wohnung in der Grosvenor Avenue hatte nie ein geschmückter Weihnachtsbaum gestanden, hatte nie Lametta über dem Kaminsims gehangen und waren am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags nie Nine Lessons and Carols aus dem Radio ertönt. Sie konnte von Glück reden, wenn sie ein Geschenk zum Auspacken hatte – zumindest dann, wenn es sich nicht um eines handelte, das sie sich selbst geschickt hatte, um den Schein zu wahren. Was gab es schon zu feiern?
    Detective Constable Murfin tauchte neben ihr auf und schwankte bedenklich am Rand des Morasts. Die untersten zehn Zentimeter seiner Hosenbeine waren hochgekrempelt und entblößten Socken mit grünem Paisleymuster sowie einen Streifen leichenblasser Haut. Fry wandte den Blick ab, da sie plötzlich ein flaues Gefühl überkam. Alles in allem war der Anblick einer teilweise verwesten Leiche vermutlich angenehmer.
    »Meinst du, dieser Fall wird uns Überstunden bescheren, Chefin?«, erkundigte sich Murfin, als sie sich einem Leichenzelt aus PVC näherten, das über dem behelfsmäßigen Grab errichtet worden war.
    »Du bist doch sowieso über Weihnachten zum Dienst eingeteilt, oder nicht, Gavin?«
    Murfin wirkte geknickt.
    »Verdammt, du hast recht. Das hatte ich ganz vergessen.«
    Fry hörte die Betroffenheit in seiner Stimme, empfand jedoch kein Mitleid. »Wenn es sich hier um ein historisches Begräbnis handelt, könntest du für eine Weile die Einsatzleitung übernehmen.«
    »Toll. Das ist wirklich... toll.«
    »Die meisten Detective Constables würden eine solche Gelegenheit zu schätzen wissen«, sagte Fry.
    »Ich nehme an, das wäre zumindest mal was anderes, als immer nur die Nominellen abzufertigen.«
    Fry lächelte zögerlich. Ja, die Nominellen. Die offizielle Bezeichnung für die aktivsten Kriminellen aus der Gegend – für die Wiederholungstäter, für all jene Individuen, die von der Gesetzgebung als »Rückfällige« bezeichnet wurden. Sie wurden in regelmäßigen Abständen verhaftet und bekamen manchmal auch kurze Gefängnisstrafen, wenn sie Pech hatten. Aber binnen kurzem waren sie wieder draußen auf den mit Abfällen übersäten Straßen der Cavendish-Wohnsiedlung – oder der »Gemeinde«, wie es im Strafjustizjargon hieß. Die Nominellen von Edendale würden sehr wohl Weihnachten feiern. Niemand wollte, dass der Verwahrungstrakt mit ihnen überfüllt war.
    Murfin schwieg einen Augenblick, als sie beobachteten, wie der Gerichtsmediziner einem Mitarbeiter der Spurensicherung Anweisungen beim Freilegen wichtiger Teile des Leichnams gab. Das entblößte Ende eines Knochens hier, ein Stück verwestes Fleisch dort.
    »Diane, glaubst du, dass es Leute gibt, die lieber einer Obduktion beiwohnen würden, als zu Hause den Truthahn zu tranchieren?«, fragte Murfin.
    »Da besteht doch kein großer Unterschied, oder?«
    »Jetzt, wo du es sagst... So, wie ich es mache, zumindest nicht. Und die Gesellschaft in der Leichenhalle ist womöglich auch besser, wenn ich daran denke, dass wir am
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