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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck
Autoren: Lena Avanzini
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an.«
    Korbinian zückte den roten Filzstift und stellte sich in Position. Er lächelte siegessicher.
    Angestrengt starrte Vera in seine wasserhellen Augen. Als sie sah, dass sich die Pupillen zusammenzogen, schoss ihre Linke vor. Sie blockte Korbinians Arm ab, während sie ihren Oberkörper zur Seite drehte, um seinem Vorwärtsdrall auszuweichen.
    Er verlor das Gleichgewicht und taumelte an Vera vorbei ins Leere. Wie von einer unsichtbaren Feder gespannt streckte sich ihre Rechte durch. Die Handfläche schlug gegen sein Schulterblatt.
    Der Glatzkopf fiel vornüber und landete auf seinen Knien. Er stöhnte auf. Der Filzstift entglitt ihm und rollte klappernd über den Parkettboden.
    »Prima! Genau so, dann kann dir keiner was.« Sifu Jochen reckte den Daumen hoch. »Das war beinahe prüfungsreif.«
    Hinter ihrem Lächeln fletschte Vera die Zähne. Eines nahm sie sich vor: Sollte tatsächlich jemand mit einem Messer auf sie losgehen, mit einem richtigen Messer, dann würde sie rennen. So schnell und so weit weg wie möglich.
     
    Die Nachmittagssonne fiel durch die Ritzen der Rollläden, und winzige Staubpartikel tanzten in ihren Strahlen.
    Sifu Jochen klatschte in die Hände. »Genug vom Zweikampf! Am Ende unserer Trainingseinheit üben wir alle noch die Formen. Stellt euch auf!«
    In drei Reihen gruppierten sich die Kampfkunstschüler vor der Spiegelwand, die Anfänger vorn, die Fortgeschrittenen hinten. Jeder für sich wiederholten sie eine Abfolge von stereotypen Armbewegungen und Schrittkombinationen. Es sah wie eine bizarre Pantomime aus. Obwohl etwa zwanzig Menschen angestrengt trainierten, hörte man nichts als das leise Schleifen der Ledersohlen über den Parkettboden, ein Geräusch, das Vera liebte.
    Aller Augen waren auf den Spiegel gerichtet, der gnadenlos jede Fehlhaltung aufzeigte. Die Gesichter sahen angespannt aus. Nur der chinesische Großmeister lächelte hohlwangig und gelassen aus seinem Bilderrahmen, als würde ihn die Verbissenheit seiner westlichen Schüler amüsieren.
    Sifu Jochen ging durch die Reihen, korrigierte hier eine Handhaltung, dort einen Schritt.
    Vera mochte das Meditative dieser Bewegungsmuster, seit sie mit Wing Tsun begonnen hatte. Damals war sie sechzehn gewesen. Ein schlaksiger, unsportlicher Teenager mit schlechter Haltung. Durch die chinesische Kampfkunst hatte sie ein gesundes Selbstbewusstsein und ein gutes Gefühl für ihren Körper entwickelt, aber auch das Bedürfnis, ihn zu kontrollieren.
    Normalerweise gelang es ihr, abzuschalten und sich ganz auf die automatisierten Bewegungsabläufe einzulassen. Nur heute war sie unkonzentriert. Ihre Gedanken kreisten um das Physiologiepraktikum und den alten Pfeifer, dieses Arschgesicht. Er hatte es tatsächlich geschafft, eine ihrer Kolleginnen mit gemeinen Fragen und sexistischen Bemerkungen derart in die Enge zu treiben, dass sie in Tränen ausgebrochen war. Daraufhin lachte er die Studentin aus. »Als Sie unlängst mit Ihrem Freund geknutscht haben, waren Sie nicht so zimperlich«, sagte er und starrte in den Ausschnitt der üppigen Blondine.
    »Nur kein Neid, Herr Professor«, rief Vera dazwischen. Der ganze Hörsaal hatte gelacht. Pfeifer hatte sie mit einem säuerlichen Lächeln gemustert, als müsste er sich ihr Gesicht einprägen. Für die nächste Prüfung. Und die war schon in zwei Wochen.
    Danach hatte sie ihren Ärger durch den Kauf von aberwitzig teuren, quietschgrünen High Heels beschwichtigen müssen. Jetzt besaß sie einen Feind und ein Paar Schuhe mehr. Und sie war endgültig pleite.
    Sifu Jochens Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »So, Leute, Schluss für heute.«
     
    Vera genoss das Prickeln des Wasserstrahls auf der Haut. Sie schrubbte ihren Hals mit Seife und einer Bürste, bis die roten Striche verblassten. Ganz ließen sie sich nicht entfernen.
    Als sie fertig angezogen war und auf ihren neuen Schuhen ein wenig schwankend das Trainingslokal verließ, waren die anderen längst gegangen.
    Im Korridor wartete der Sifu auf sie. Er wedelte mit einem Zahlschein. »Du hast deinen Monatsbeitrag noch nicht bezahlt.«
    Vera erschrak. »Oh Mist, das habe ich diesmal total vergessen.«
    »Diesmal?« Er lachte. »Du vergisst es fast immer. Mit einer Einzugsermächtigung würde das nicht passieren.«
    »Stimmt. Aber im Moment würde die nichts nützen. Mein Konto ist überzogen, und ich …«
    Sifu Jochen runzelte die Stirn. »Vera, ich bin nicht nur dein Wing-Tsun-Trainer, sondern auch ein guter Freund. Und ein
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