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Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden
Autoren: Mario Vargas Llosa
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können, Señorita.«
    »Ruhe!« brüllte sie und riß ihm die Pässe aus der Hand. Es war eine Kleinmädchenstimme, schneidend und wütend. »Still.«
    Albert dachte, wie ruhig und rein dort oben alles war, an diesem hohen, sternenbesäten Himmel, und wie sehr die bedrohliche Spannung hier unten im Gegensatz dazu stand. Seine Angst war verflogen. Wenn all dies Erinnerung sein würde, wenn er es schon Dutzende Male den Freunden im Bistro und den Schülern in der Schule in Cognac erzählt hätte, dann würde er la petite Michèle fragen: »Hatte ich recht oder nicht, als ich lieber den Bus nehmen wollte? Wir hätten uns um das tollste Reiseerlebnis gebracht.«
    Ein halbes Dutzend Männer mit automatischen Gewehren, die ihnen mit dem Strahl der Taschenlampen ständig in die Augen leuchteten, waren zu ihrer Bewachung dageblieben. Die anderen hatten sich einige Meter entfernt und schienen sich miteinander zu beraten. Albert folgerte, daß sie die Papiere einer sorgfältigen Prüfung unterzogen. Ob sie wohl alle lesen konnten? Wenn sie sehen würden, daß sie nicht von hier waren, sondern arme Franzosen, Rucksacktouristen,die im Bus reisten, würden sie sie um Entschuldigung bitten. Die Kälte drang ihm in die Knochen. Er legte seine Arme um la petite Michèle und dachte: ›Der von der Botschaft hatte recht. Wir hätten das Flugzeug nehmen sollen. Wenn wir reden können, werde ich mich bei dir entschuldigen.‹
    Die Minuten dehnten sich zu Stunden. Mehrere Male war er sicher, daß er vor Kälte und Erschöpfung ohnmächtig werden würde. Als die Fahrgäste begannen, sich auf den Boden zu setzen, taten er und la petite Michèle es ihnen nach und setzten sich ganz dicht nebeneinander. Sie verharrten stumm, eng aneinandergedrängt, sich gegenseitig wärmend. Die Kaperer kamen nach einer langen Weile zurück, zogen die Reisenden einen nach dem anderen hoch, schauten ihnen ins Gesicht, richteten ihnen den Strahl der Taschenlampe in die Augen, stießen sie vorwärts und trieben sie in den Bus zurück. Ein bläulicher Streifen erschien hinter dem zackigen Profil der Berge. La petite Michèle schien zu schlafen, so still hockte sie da. Aber ihre Augen waren weit aufgerissen. Albert stand mühsam auf, wobei er spürte, wie seine Knochen knirschten, und mußte la petite Michèle mit beiden Armen hochziehen. Er fühlte sich ganz benommen, seine Muskeln krampften sich zusammen, sein Kopf war schwer, und er dachte, daß sie bestimmt wieder unter der Höhenkrankheit litt, die ihr in den ersten Stunden, als sie die Kordillere hinaufgefahren waren, so sehr zu schaffen gemacht hatte. Der böse Spuk fand offenbar einEnde. Die Fahrgäste hatten eine Schlange gebildet und stiegen nacheinander in den Bus. Als sie beide an der Reihe waren, setzten ihnen die beiden kapuzentragenden Burschen, die an der Tür des Fahrzeugs standen, die Gewehre auf die Brust, ohne ein Wort zu sagen, und wiesen sie an, beiseite zu treten.
    »Warum?« fragte Albert. »Wir sind französische Touristen.«
    Einer der beiden näherte ihm drohend sein Gesicht und brüllte ihn an:
    »Ruhe! Scht!«
    »Nicht spanisch sprechen«, rief la petite Michèle.
    »Tourist! Tourist!«
    Sie wurden umringt, an den Armen gepackt, vorwärts gestoßen, von den anderen Fahrgästen entfernt. Und bevor sie noch begreifen konnten, was geschah, begann der Motor des Busses zu gurgeln, Leben kam in den Koloß, und er fing zu vibrieren an. Sie sahen ihn schlingernd davonfahren, auf der verlorenen Piste der Andenhochebene.
    »Was haben wir getan?« flüsterte Michèle auf französisch. »Was werden sie mit uns machen?«
    »Sie werden Lösegeld von der Botschaft verlangen«, brachte er mühsam hervor.
    »Den da haben sie nicht wegen irgendeines Lösegeldes dabehalten.« La petite Michèle schien nicht mehr ängstlich zu sein; eher hitzig, empört.
    Der Reisende, den sie zusammen mit ihnen zurückgehalten hatten, war klein und untersetzt. Albert erkannteseinen Hut und seinen winzigschmalen Schnurrbart wieder. Er hatte in der ersten Reihe gesessen, pausenlos geraucht und sich hin und wieder zum Fahrer gebeugt, um mit ihm zu plaudern. Er gestikulierte und flehte, bewegte den Kopf, die Hände. Sie umringten ihn. Sie hatten ihn und la petite Michèle vergessen.
    »Siehst du die Steine?« wimmerte sie. »Siehst du sie? Siehst du sie?«
    Es tagte rasch auf der Hochebene, und die Körper, die Umrisse ließen sich jetzt deutlich erkennen. Sie waren jung, sie waren kaum erwachsen, sie waren arm, und einige
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