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Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden
Autoren: Mario Vargas Llosa
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stammte niemand, soviel er wußte. Nicht einmal sein Amtshelfer kam von der Küste. Aber Tomás wirkte wie ein Kreole, obwohl er in Sicuani geboren war und Quechua sprach. Er hatte den kleinen Stummen Pedro Tinoco mit nach Naccos gebracht, der als erster verschwunden war.
    Er war ein gradliniger Mensch, der Gendarm Carreño, wenn auch etwas trübsinnig. In den Nächten öffnete er Lituma sein Herz und zeigte sich zugänglich für freundschaftliche Gefühle. Der Korporal hatte ihm kurz nach seiner Ankunft gesagt: »So, wie du bist, hättest du verdient, an der Küste geboren zu sein. Sogar in Piura, Tomasito.« »Ich weiß, wenn Sie das sagen, dann heißt das viel, Herr Korporal.« Ohne seine Gesellschaft wäre das Leben in dieser Einsamkeit düster gewesen. Lituma seufzte. Was hatte er hier auf der Hochebene zwischen wortkargen, mißtrauischen Indios verloren, die die Politik dazu brachte, sich gegenseitig umzubringen, und die obendrein auch noch verschwanden?Warum war er nicht in seiner Heimat? Er stellte sich vor, wie er, von Bierflaschen umgeben, in der Río-Bar saß, zwischen den Unbezwingbaren, seinen alten Kumpanen, in einer warmen piuranischen Nacht mit Sternen, valses und dem Geruch nach Ziegen und Johannisbrotbäumen. Ein plötzlicher Anfall von Traurigkeit verursachte ihm ein dumpfes Ziehen in den Zähnen.
    »Fertig, Herr Korporal«, sagte der Gendarm. »Die Señora weiß nicht viel, in Wahrheit. Und sie ist halbtot vor Angst, sehen Sie das nicht?«
    »Sag ihr, wir werden unser möglichstes tun, um ihren Mann wiederzufinden.«
    Lituma versuchte ein Lächeln und gab der Indiofrau mit der Hand zu verstehen, daß sie gehen konnte. Sie schaute ihn an, ohne eine Regung im Gesicht. Sie war klein und alterslos, ihre Knochen wirkten zerbrechlich wie die eines Vogels, und sie verschwand fast unter den zahlreichen dicken Röcken und dem zerfransten Hut, der halb heruntergerutscht war. Aber in ihrem Gesicht und in ihren runzligen kleinen Augen lag etwas Unzerstörbares.
    »Es scheint, als hätte sie das mit ihrem Mann erwartet, Herr Korporal. ›Es würde passieren, es mußte passieren‹, sagt sie. Aber von den Terroristen oder von der Miliz von Sendero hat sie natürlich nie was gehört.«
    Ohne den Kopf zum Abschied zu neigen, drehte die Frau sich um und trat in den strömenden Regen hinaus. Nach wenigen Minuten hatte sie sich, RichtungLager, in der bleiernen Feuchtigkeit aufgelöst. Der Korporal und der Gendarm verharrten eine ganze Weile, ohne etwas zu sagen. Schließlich klang Lituma die Leichenbitterstimme seines Amtshelfers in den Ohren:
    »Ich werde Ihnen was sagen. Sie und ich kommen hier nicht lebend raus. Sie haben uns umzingelt, machen wir uns doch nichts vor.«
    Lituma zuckte die Schultern. Im allgemeinen war er es, der den Mut verlor, und sein Amtshelfer hob die Stimmung. Heute tauschten sie die Rollen.
    »Mach dir nicht unnötig das Leben schwer, Tomasito. Sonst sind wir halb wahnsinnig, wenn sie kommen, und können uns nicht mal mehr wehren.«
    Der Wind brachte das Wellblech des Daches zum Klirren, und der heftig herabstürzende Regen betröpfelte hier und da das Innere der Unterkunft. Sie bestand aus einem einzigen Raum, der durch einen hölzernen Wandschirm unterteilt und durch eine Palisade aus mit Steinen und Erde gefüllten Säcken geschützt war. Auf der einen Seite befand sich der Posten der Gendarmerie mit einem dicken Brett auf zwei Böcken – dem Schreibtisch – und einer Truhe, in der das Registerbuch und die Dienstmeldungen aufbewahrt wurden. Auf der anderen Seite, dicht nebeneinander, weil es so eng war, die beiden Pritschen. Licht erhielten sie durch Kerosinlampen, und sie besaßen ein batteriebetriebenes Radio, mit dem sie, wenn es keine atmosphärischen Störungen gab, Radio Nacional und Radio Junín hereinbekamen. Der Korporal und der Gendarm hockten die Nachmittage und Abende vor dem Apparat und versuchten, die Nachrichten aus Lima oder Huancayo zu hören. Auf dem Boden aus gestampfter Erde lagen Lama- und Schaffelle; außerdem gab es einen kleinen Kochherd, einen Spirituskocher, Gefäße aus Porongokürbissen, Töpfe, die Koffer von Lituma und Tomás und einen Schrank ohne Boden – die Waffenkammer –, in dem sie die Gewehre, die Patronentaschen und die Maschinenpistole aufbewahrten. Die Revolver trugen sie immer bei sich und legten sie nachts unter das Kopfkissen. Sie saßen unter dem vergilbten Herz-Jesu-Bild – eine Werbeanzeige von Inca-Cola – und hörten einige Minuten
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