Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
aß diesen mit sichtlichem Appetit.
    »Dann hatten Sie also jemanden«, sagte er nach einer Weile und sah sie fast entschuldigend an.
    »Drei«, antwortete sie. »Gegen Viertel vor eins oder so um den Dreh. Eine später, drei Uhr oder so, und eine weitere eine Stunde später.«
    »Alle in Kämpfe verwickelt?«
    »Sah so aus. Ich hab sie nicht gefragt. Das tue ich nie. Warum?«
    Hester wartete und beobachtete ihn. Er hatte Ringe unter den Augen, als hätte er zu viele Nächte nicht geschlafen, und auf seinen Ärmeln war Staub und etwas, das aussah wie Blut. Als sie genauer hinschaute, entdeckte sie noch mehr Blut auf seinen Hosenbeinen. Die Hand, die den Becher hielt, war zerkratzt, ein Fingernagel war abgerissen. Es hätte ihm eigentlich wehtun müssen, aber er schien es gar nicht zu merken. Sie wurde von Mitleid erfasst und einem kalten Hauch voller Angst. »Warum sind Sie hier?«, fragte sie laut.
    Er stellte den Becher ab. »Es hat einen Mord gegeben«, antwortete er. »In Abel Smiths Bordell drüben in der Leather Lane.«
    »Das tut mir Leid«, sagte sie unwillkürlich. Wen auch immer es erwischt hatte, so etwas war immer traurig, zwei Menschenleben vergeudet, weitere voller Kummer. Aber Morde waren in einer Gegend wie dieser oder Dutzenden anderen, ganz ähnlichen in London nicht selten. Nur wenige Meter abseits belebter Straßen lagen schmale Gassen und Plätze, und doch war es eine andere Welt mit Pfandleihern, Bordellen, Klitschen und Mietshäusern, in denen es nach Abfall und faulem Holz roch. Prostitution war eine gefährliche Beschäftigung, in erster Linie wegen der Krankheiten, die man sich dabei zuziehen konnte, aber auch, weil man, wenn man überhaupt so lange lebte, mit fünfunddreißig oder vierzig Jahren zu alt für dieses Gewerbe war und verhungern konnte.
    »Warum sind Sie denn hier?«, fragte Hester. »Wurde noch eine angegriffen?«
    Er sah sie mit schmalen Augen und zusammengepressten Lippen an. Sein Gesicht drückte Verständnis und Not aus, nicht Geringschätzung. »Das Opfer war nicht eine Frau«, erklärte er. »Sonst würde ich doch keine Hilfe von Ihnen erhoffen. Obwohl sie manchmal Streit kriegen, bringen sie sich, soweit ich weiß, nicht gegenseitig um. Hab's jedenfalls noch nie erlebt.«
    »Ein Mann?« Sie war überrascht. »Ist der etwa von einem Zuhälter umgebracht worden? Was ist passiert? Glauben Sie, es war ein Betrunkener?«
    Er griff nach seinem Tee und ließ die heiße Flüssigkeit durch seine Kehle rinnen. »Weiß nicht. Abel schwört, es hätte nichts mit den Frauen zu tun …«
    »Muss er ja wohl, oder?« Sie wies den Gedanken zurück, ohne ihn überhaupt in Erwägung zu ziehen.
    Hart ließ nicht so schnell locker. »Die Sache ist die, Mrs. Monk, der Tote war ein feiner Pinkel … ich meine, ein richtig feiner Pinkel. Sie hätten seine Kleider sehen sollen. Ich weiß, was Qualität ist. Und sauber. Auch seine Hände waren sauber, Nägel und alles. Und glatt.«
    »Wissen Sie, wer er ist?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Jemand hat sein Geld und seine Visitenkarten geklaut, falls er welche hatte. Aber irgendjemand wird ihn vermissen. Wir werden's rausfinden.«
    »Auch von solchen Männern weiß man, dass sie zu Prostituierten gehen«, sagte sie sachlich.
    »Ja, aber nicht in solche Häuser wie das von Abel Smith«, erwiderte er. »Aber darum geht's mir nicht«, fügte er rasch hinzu. »Die Sache ist die, wenn so ein Mann umgebracht wird, erwartet man von uns, dass wir den Mörder doppelt so schnell finden, und dann gibt's trotzdem noch 'ne Menge Geschrei und Gejammer, die Gegend müsste gesäubert werden, man müsste die Prostitution abschaffen und die Straßen für anständige Leute sicher machen.« Die Geringschätzung, mit der er sprach, war ihm kaum anzumerken. Weder verzog er höhnisch die Lippen, noch hob er die Stimme an; da war nur eine leichte, subtile Verachtung.
    »Vermutlich wäre er noch am Leben, wenn er zu Hause bei seiner Frau geblieben wäre«, antwortete Hester bitter. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Warum sollte ausgerechnet eine verletzte Frau etwas darüber wissen? Und meinen Sie wirklich, sie würde es wagen, mit Ihnen darüber zu reden?«
    »Sie glauben, ihr Zuhälter war's?« Er zog die Augenbrauen hoch.
    »Sie nicht?«, entgegnete sie. »Warum sollte eine Frau ihn umbringen? Und wie? Starb er an einer Stichverletzung? Ich kenne keine Frau, die ein Messer mit sich rumträgt oder ihre Kunden angreift. Fingernägel und Zähne sind das Schlimmste,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher