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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden
Autoren: Anne Perry
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verletzt oder krank. Weil ich weder weiß, wie sie sich verletzt haben, noch, wo man sie suchen soll, konnte ich ihm nicht helfen.«
    Er schob sie ein wenig von sich weg, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Würdest du der Polizei denn helfen, wenn du könntest?«
    »Ich glaube nicht«, gab sie zu. »Ich weiß nicht …«
    Er lächelte ganz leicht, denn er durchschaute sie vollkommen.
    »Na schön …«, sagte sie. »Ich bin froh, dass ich ihnen nicht helfen konnte. Es befreit mich von der Bürde, entscheiden zu müssen, ob ich's tun würde oder nicht. Offensichtlich war er, mit Constable Harts Worten, ›ein feiner Pinkel‹, also wird die Polizei den Leuten ganz schön zusetzen, weil die Familie keine Ruhe geben wird.« Angewidert verzog sie das Gesicht. »Womöglich wollen sie uns weismachen, er wäre ein Philanthrop gewesen, der durch die Seitenstraßen und Gassen spazierte, um die Seelen gefallener Frauen zu retten!«
    Er hob den Kopf und schob ganz vorsichtig das Haar zurück, das ihr über die Augen gefallen war. »Unwahrscheinlich … aber ich nehme an, es wäre durchaus möglich. Wir glauben, was wir glauben müssen … zumindest so lange wie möglich.«
    Sie lehnte den Kopf an sein Kinn. »Ich weiß. Aber ich finde es unverzeihlich, dass all die Frauen, die sowieso schon elend genug dran sind, verfolgt werden, oder die Zuhälter, die es nur wieder an den Frauen auslassen. Ändern wird das nichts.«
    »Jemand hat ihn umgebracht«, sagte er vernünftig. »Das können sie nicht ignorieren.«
    »Ich weiß!« Sie atmete tief durch. »Ich weiß.«

2
    Hester hatte geahnt, dass die Gegend um den Coldbath Square unter dem verstärkten Eifer der Polizei zu leiden haben würde, die Frauen bedrängte, die entweder Prostituierte waren oder keine legitime Beschäftigung nachweisen konnten, aber als es dann geschah, war sie doch bestürzt. Schon als sie am nächsten Abend im Haus war, wurde sie mit den unmittelbaren Folgen konfrontiert. Margaret war nicht da; sie mischte sich gerade unter die feinen Leute, um diesen Spendengelder für Miete, Verbandszeug und Medizin zu entlocken. Aber auch andere Ausgaben für Brennholz, Karbol, Putzmittel und natürlich für Essen mussten gedeckt werden.
    Die erste Frau, die ins Haus kam, war nicht verletzt, sondern krank. Sie hatte Wechselfieber, das Hester als Symptom einer venerischen Erkrankung deutete. Sie konnte wenig für sie tun, außer sie zu trösten und einen Kräutertee zu kochen, der das Fieber senkte und ihr ein wenig Erleichterung verschaffte.
    »Haben Sie Hunger?«, fragte Hester und reichte der Frau den dampfenden Becher. »Ich habe Brot und ein wenig Käse, wenn Sie mögen.«
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich nehme nur die Medizin.«
    Hester betrachtete ihr fahles Gesicht und ihre hochgezogenen Schultern. Sie war wahrscheinlich kaum älter als fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, aber sie war erschöpft. Schlaflosigkeit, schlechtes Essen und Krankheiten hatten ihr alle Energie geraubt.
    »Möchten Sie heute Nacht hier bleiben?«, bot Hester ihr an. Eigentlich war das Haus nicht dazu da, aber solange keine Frau kam, die dringender Hilfe brauchte, konnte die Frau ruhig in einem der Betten schlafen.
    In den Augen der Frau glühte für einen kurzen Moment ein Funke auf. »Kost' das was?«, fragte sie misstrauisch.
    »Nein.«
    »Und morgen früh kann ich wieder gehen?«
    »Sie können jederzeit gehen, aber am Morgen wäre gut.«
    »Ja, danke. Wär ja nett.« Sie traute Hester noch nicht recht. Ihr Mund verhärtete sich. »Hat keinen Sinn da draußen«, sagte sie grimmig. »Kein Geschäft zu machen. Überall Polypen – wie Fliegen, die um 'ne tote Ratte schwirren. Gibt nix zu tun, nich' mal für die, die noch sauber sind.« Sie meinte – im Gegensatz zu ihr – gesund.
    Darauf konnte Hester nichts sagen. Die Wahrheit wäre eine Herablassung gewesen, mit der die Frau nichts anfangen konnte. Sie würde ihr keine Hoffnung geben, sondern sie vielmehr jeglichen Gefühls, verstanden zu werden, berauben.
    »Ist wegen dem verdammten Schnösel, der letzte Nacht umgebracht wurde«, fuhr die Frau unglücklich fort. »Dumme Kuh! Warum jemand hingeht und so was tut, ich versteh's nich'!« Sie trank einen Schluck Kräutertee und verzog den Mund wegen des bitteren Geschmacks.
    »Mit Zucker würd's womöglich noch schlimmer schmecken«, sagte Hester. »Aber Sie können welchen haben, wenn Sie möchten.«
    »Nein danke.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich gewöhn mich
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