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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden
Autoren: Anne Perry
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metallischen Dröhnen und dem Heulen des Windes übertönt.
    Baltimore stürzte nach vorn und riss den Heizer mit sich zu Boden.
    Monk zog sich hoch und schwang herum, um auf den Füßen zu landen.
    Der Bremser starrte ihn an, Schweiß lief ihm über das Gesicht, als er sich mit dem Hebel abmühte und spürte, dass er nachgab. Der Lokführer kam ihnen winkend entgegen.
    Plötzlich wusste Monk, was zu tun war. Er hatte es schon einmal getan, hatte sich mit seinem ganzen Gewicht und aller Kraft auf die Bremsen geworfen und gespürt, wie sie rissen, genau wie jetzt. Er wusste genau, was los war, und bei der Erinnerung daran wurde ihm übel vor Entsetzen. Damals hatte er sich allerdings im letzten Waggon des Zugs befunden und war durch den Zusammenprall hinausgeschleudert worden. Er hatte sich mehrmals überschlagen und war, voller blauer Flecken und Abschürfungen, aber lebend, die Böschung hinuntergerollt – während die anderen umgekommen waren. Das war die Schuld, die er so schmerzlich empfand – er hatte überlebt und sie nicht. Sie waren alle in diesem Inferno aus Flammen und Stahl zermalmt worden.
    »Heizen!«, schrie er, so laut er konnte. Er schwang die Arme. Er hatte begriffen, was sie tun mussten, es war ihre einzige Chance. »Die Bremsen haben versagt! Sie sind nutzlos! Fahren Sie schneller!«
    Hinter ihm erhoben sich Baltimore und der Heizer auf die Füße. Er drehte sich um. »Heizen!« Diesmal formte er das Wort unhörbar mit den Lippen. »Schneller!« Er schwang die Arme.
    Baltimore war völlig verängstigt. Der Heizer machte Anstalten, auf Monk zuzukommen, ihn zu packen und festzuhalten. Baltimore stürzte sich auf ihn. Die beiden schwankten und wankten, während der Zug durch die einbrechende Dämmerung toste und taumelte wie ein Schiff im Sturm.
    Monk hob die Schaufel auf und machte sich daran, mehr Kohle in den Kessel zu schaufeln. In der Mitte war das Feuer schon gelb, und die Hitze versengte ihm das Gesicht, aber er warf eine Schaufel Kohle nach der anderen hinein. Sie mussten den Viadukt passieren, bevor der andere Zug kam; es war ihre einzige Chance. Nichts auf der Welt konnte ihre Fahrt jetzt noch verlangsamen.
    Baltimore schrie etwas hinter ihm, winkte mit den Armen. Dem Heizer hatte es die Sprache verschlagen. Verrückte waren plötzlich in sein Reich eingefallen, sein Zug kreischte durch die Abenddämmerung, der eingleisige Viadukt lag vor ihnen, und jeden Augenblick konnte ihnen ein Zug entgegenkommen.
    Endlich begriff der Bremser. Er hatte gespürt, dass die Bremsen gerissen waren, und er wusste, wie sinnlos es war, sein Gewicht oder seine Kraft weiter dagegenzuwerfen. Er griff nach der anderen Schaufel und tat es Monk nach.
    Sie fuhren schneller und schneller. Der Lärm war ohrenbetäubend, die Hitze versengte ihnen die Haut und die Augenbrauen, und trotzdem schaufelten sie weiter Kohlen ins Feuer, bis der Heizer Monk am Arm griff und wegzog. Er schüttelte den Kopf. Erst kreuzte er die Arme vor der Brust, dann streckte er sie weit auseinander.
    Monk begriff. Noch mehr, und der Kessel würde explodieren. Jetzt konnten sie nur noch warten und allenfalls beten. Sie fuhren so schnell, wie eine Maschine auf der Welt nur fahren konnte. Funken flogen durch die Luft, Dampf riss wie Wolken vom Schornstein ab und zerfetzte im Wind. Unaufhörlich donnerten die Räder über die Gleise.
    Der Viadukt kam in Sicht, und im nächsten Augenblick waren sie schon darauf.
    Monk sah zu Baltimore hinüber und sah das Entsetzen in dessen Miene – und eine Art Jubel. Jetzt konnten sie nur noch warten. Entweder erreichten sie rechtzeitig das Ende der eingleisigen Streckenführung, oder es würde einen Zusammenstoß geben, eine Explosion, die Wrackteile tausend Kilometer in alle Richtungen schleuderte, bis auf den Felsen unter ihnen nichts Lebendes mehr zu finden war.
    Der Atem wurde ihnen von den Lippen gerissen, und der Wind brannte und stach mit Asche, Rußflocken und roten Funken wie Hornissen. Ihre Kleider waren zerrissen und angesengt.
    Der Lärm war wie eine niedergehende Lawine.
    Aber Monk hatte Recht gehabt: Dundas war unschuldig, die Bremsen waren nicht ausgereift gewesen, wie er gesagt hatte. Er hatte ganz bewusst einen schrecklichen Preis dafür bezahlt, um einen jungen Mann zu retten, der ihn selbstlos und uneingeschränkt liebte. Seine Liebe war größer gewesen als Katrinas Hass, und er würde sie für immer in seinem Herzen bewahren.
    Sein Name war gerettet!
    Es wurde dunkel und noch lauter, und
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