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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden
Autoren: Anne Perry
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nicht mehr weit davon entfernt sein. Um Gottes willen, stehen Sie nicht herum! Gehen Sie zum Zugführer, und sagen Sie ihm, er soll langsamer fahren und dann anhalten! Los!«
    »Ich glaube Ihnen nicht …« Es waren Protest und Lüge in einem, das war Baltimores verzweifeltem Blick und seinen trockenen Lippen deutlich anzusehen.
    Der Zug wurde immer schneller. Es wurde immer schwieriger, aufrecht zu stehen, selbst für Baltimore, der mit dem Rücken an der Abteilwand lehnte.
    »Sind Sie sich dessen so sicher, dass Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen?«, fragte Monk unbarmherzig. »Ich nicht. Ich gehe, mit Ihnen oder ohne Sie.« Damit wich er zurück und verlor fast das Gleichgewicht, als er sich umdrehte und an den anderen Abteilen vorbei auf die Spitze des Zuges zueilte.
    Baltimore drehte sich um und stürzte hinter ihm her.
    Monk stürmte durch das nächste Abteil, scheuchte die wenigen Firmenmitarbeiter, die an der Eröffnungsfahrt teilnahmen, auseinander. Sie waren zu verblüfft, um ihn aufzuhalten.
    Er durchlebte ein euphorisches Hochgefühl, wie er es seit vielen Jahren nicht gehabt hatte. Er konnte sich erinnern! So furchtbar einige Erinnerungen auch waren, voller Schmerz und Kummer, Hilflosigkeit und dem Wissen, dass Dundas unschuldig gewesen war und er ihn nicht gerettet hatte, so war es doch kein Durcheinander mehr. Es war so klar wie die Realität des gegenwärtigen Augenblicks. Er hatte Dundas im Stich gelassen, aber er hatte ihn nicht betrogen. Er war ehrlich gewesen. Er wusste es, und zwar nicht auf Grund der Worte anderer, sondern weil er sich daran erinnerte.
    Jetzt war er im nächsten Abteil, schob sich zwischen den Männern hindurch, die sich über sein Eindringen empörten. Der Zug, der auf das Gefälle und das einzelne Gleis auf dem Viadukt zusauste, erinnerte ihn an einen anderen Zug, als wäre es erst wenige Wochen her. Er erinnerte sich daran, dass Dun-das ihm anvertraut hatte, er habe versucht, Nolan Baltimore davon zu überzeugen, noch zu warten und die Bremsen sorgfältiger zu testen. Baltimore hatte sich geweigert. Es gab keinen Beweis, nur Dundas' Angst.
    »Verzeihung! Verzeihung!«, rief er immer lauter. Sie machten ihm Platz.
    Einer packte ihn am Ärmel. »Was ist denn los?«, fragte er ängstlich, während der Zug von einer Seite zur anderen schwankte.
    »Nichts!«, log Monk. »Entschuldigen Sie mich!« Er riss sich los und eilte weiter, Baltimore ihm dicht auf den Fersen.
    Damals hatte man Dundas des Betrugs angeklagt, und Monk hatte in dem bangen und aufgeregten Versuch, seine Unschuld zu beweisen, die Bremsen vergessen. Aber es gab zu viele sorgfältig platzierte Beweise. Dundas wurde vor Gericht gestellt, verurteilt und ins Gefängnis geschickt.
    Keinen Monat später war es zu dem Unfall gekommen … an einem Tag wie diesem donnerte ein Zug, Dampf und Funken ausstoßend, durch die friedliche Landschaft und raste blindlings in den Tod aus zerfetztem Stahl, Blut und Flammen.
    Monk hatte die Zusammenhänge klar erkannt, aber für ihn gab es nur noch eines: zu retten, was noch zu retten war, und Baltimore an einer Wiederholung zu hindern. Dundas war sogar bereit gewesen, alles, was er besaß, dafür wegzugeben.
    Das war es! Das letzte Teilstück fiel an seinen Platz. Monk wurde übel, und er blieb da stehen, wo er stand, am Anfang des Waggons hinter der Lok. Baltimore, nur einen Schritt hinter ihm, stieß mit ihm zusammen und drückte ihm fast die Luft ab.
    Als er Baltimore damals das Geld gegeben hatte, um den Untersuchungsausschuss zu bestechen, hatte er es nicht gewusst, er hatte es hinterher erfahren, als es nicht mehr ungeschehen gemacht werden konnte. Es war nicht um Dundas' Ruf oder den der Baltimore'schen Eisenbahngesellschaft gegangen, obwohl das wichtig war, bei tausend Arbeitern und ihren Familien. Nolan Baltimore hatte gedroht, er würde Monk in die Sache mit den fehlerhaften Bremsen mit hineinziehen. Seine Unterschrift war auf den Bankformularen, mit denen das Geld für ihre Entwicklung angewiesen wurde. Um Monk zu retten, war Dundas bereit, alles, was ihm noch geblieben war, herzugeben.
    Als Monk weiterstürzte, die Waggontür gegen den Fahrtwind aufdrückte, sich am Türrahmen festhielt und auf den schmalen Sims hinaustrat, waren es nicht nur der Wind, der Rauch und die Rußflocken, die seine Haut und seine Augen brennen ließen, es war der Schmerz der Erinnerung, ein Opfer, ein Verlust, der Preis dafür, dass er vor Ruin und Gefängnis gerettet worden war.
    Er drehte sich
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