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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden
Autoren: Anne Perry
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und das arme Luder womöglich hängen müssen.« Vor lauter Niedergeschlagenheit merkte er nicht, dass er in ihrer Gegenwart eine geringschätzige Bezeichnung benutzt hatte, und entschuldigte sich auch gar nicht.
    »Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Hester leise und dachte an die Frauen, die in der vorangegangenen Nacht zu ihr gekommen waren, alle mehr oder weniger verletzt. »Fünf Frauen waren hier, aber sie sind alle wieder gegangen, und ich habe keine Ahnung, wohin. Ich frage nicht danach.«
    »Ihre Namen?«, sagte er ohne allzu große Erwartung.
    »Auch danach frage ich nicht, ich lasse mir nur einen Vornamen nennen, mit dem ich sie ansprechen kann.«
    »Das würde fürs Erste genügen.« Er stellte seinen Becher ab und holte Notizbuch und Bleistift aus seiner Tasche.
    »Eine Nell, eine Lizzie und eine Kitty«, antwortete sie. »Später eine Marian und eine Gertie.«
    Er dachte einen Augenblick nach und steckte den Bleistift dann wieder weg. »Kaum der Mühe wert«, klagte er. »Alle heißen Mary, Lizzie oder Kate. Gott weiß, wie sie mal getauft wurden – falls überhaupt, die armen Seelen.«
    Sie betrachtete ihn im hellen Morgenlicht. Seine Wangen waren von dunklen Stoppeln überschattet und seine Augen rot gerändert. Mit den Prostituierten hatte er weit mehr Mitleid als mit den Freiern. Sie hatte das Gefühl, dass er denjenigen, der den Mann die Treppe hinuntergestoßen hatte, nicht unbedingt fangen wollte. Die Mörderin würde zweifellos für etwas gehängt werden, das ebenso gut ein Unfall gewesen sein konnte. Womöglich war es gar nicht absichtlich geschehen, aber wer würde das glauben, wenn die Frau auf der Anklagebank eine Prostituierte war und der Tote ein reicher, angesehener Mann? Welcher Richter oder Geschworene konnte eingestehen, dass ein solcher Mann womöglich zumindest teilweise schuld an seinem eigenen Tod war?
    »Es tut mir Leid«, sagte sie noch einmal. »Ich kann Ihnen nicht helfen.«
    Er seufzte. »Und Sie würden's nicht, wenn Sie könnten … ich weiß.« Er erhob sich langsam und verlagerte das Gewicht ein wenig, als zwickten ihn seine Stiefel. »Aber fragen musste ich.«
    Es war fast zehn Uhr, als vor dem Haus in der Fitzroy Street ein Hansom vorfuhr.
    Monk saß im Vorderzimmer, in dem er Leute empfing, die ihn aufsuchten, um seine Dienste als privater Ermittler in Anspruch zu nehmen. Er hatte Papiere vor sich ausgebreitet und las darin.
    Sie war überrascht, ihn zu sehen, und freute sich plötzlich ungeheuer darüber. Sie kannte ihn inzwischen sieben Jahre, verheiratet waren sie aber erst seit knapp drei. Immer noch empfand sie große Freude darüber und musste darüber lächeln.
    Als Antwort darauf glätteten sich seine Züge, er schob die Papiere beiseite und stand auf.
    In seinen Augen stand eine Frage. »Du bist spät dran«, sagte er, nicht als Kritik, sondern voller Mitgefühl. »Hast du was gegessen?«
    »Toast«, antwortete sie mit einem leichten Achselzucken. Sie war zerzaust und roch sicher nach Essig und Karbol, aber sie wollte, dass er sie trotzdem küsste. Sie stand vor ihm und hoffte, dass es ihr nicht zu offensichtlich anzusehen war. So verliebt war sie, dass es ihr peinlich war, allzu leicht zu durchschauen zu sein.
    Er nahm ihr den Hut vom Kopf und warf ihn lässig auf den Stuhl, dann umarmte er sie und küsste sie wärmer, als sie erwartet hätte. Sie reagierte von ganzem Herzen, und als sie an die einsamen, zurückgewiesenen Frauen dachte, die sie in der Nacht behandelt hatte, umarmte sie ihn und hielt ihn ganz fest.
    »Was ist los?«, fragte er, da er spürte, dass sie anders war als sonst.
    »Nur die Frauen«, antwortete sie. »Letzte Nacht ist ein Mord geschehen. Darum bin ich so spät dran. Heute Morgen hatten wir die Polizei im Haus.«
    »Warum? Was solltest du darüber wissen?« Er wunderte sich.
    Sie wusste, an was er dachte: Eine Prostituierte, die geschlagen worden und blutend zu ihr gekommen war und, als sie ins Bordell zurückkehrte, noch einmal geprügelt worden war, diesmal zu Tode. »Nein. Zumindest nicht das, was du meinst«, sagte sie. »Das Opfer war ein Mann, ein Kunde, wenn man ihn so bezeichnen kann. Man nimmt an, dass er sich mit einer der Frauen geschlagen hat und sie ihn irgendwie die Treppe runtergestoßen hat. Der Polizist wollte wissen, ob Frauen da gewesen seien mit Schnittverletzungen und blauen Flecken, die von einer Prügelei stammen könnten.«
    »Und, hast du welche gesehen?«, fragte er.
    »Natürlich. Jede Nacht! Sie sind meist
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