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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden
Autoren: Anne Perry
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…«
    »Er ist nicht hier«, versicherte Hester ihr. »Hier ist niemand, der Ihnen wehtun könnte. Wo sind Sie verletzt?«
    Kitty antwortete nicht. Ihre Zähne schlugen aufeinander.
    »Mach schon, du dummes Weib!«, sagte Lizzie ungeduldig. »Sie tut dir nichts, und sie erzählt auch niemandem was. Nell macht nur weiter, weil sie ihren Alten gern hat. Er ist ein anständiger Kerl. Wie aus dem Ei gepellt. Kleidet sich, als sei der Schneider ihm was schuldig und nicht umgekehrt.« Sie umfasste ihr gebrochenes Handgelenk und zuckte vor Schmerz zusammen. »Mach schon. Du hast vielleicht die ganze Nacht Zeit, ich nicht.«
    Kitty warf einen Blick auf die Eisenbetten, fünf an jeder Seite des Raums, die Spülsteine am hinteren Ende und die Eimer und Krüge voll Wasser, das an der Ecke des Platzes aus dem Brunnen geholt wurde. Dann sah sie Hester an und gab sich sichtlich Mühe, sich zusammenzureißen.
    »Ich bin in einen Kampf geraten«, sagte sie leise. »Es ist nicht so schlimm. Es war wohl mehr Angst als alles andere.« Ihre Stimme überraschte Hester. Sie war tief und ein wenig heiser und deutlich artikuliert. Kitty musste irgendwann einmal eine Schulbildung genossen haben. Das weckte in Hester einen Anflug von Mitleid, sodass sie einen Augenblick an nichts anderes denken konnte. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Die Frau wollte kein Mitleid. Sie war sich ihres Sündenfalls nur allzu bewusst, dafür brauchte sie keine Zeugen.
    »An Ihrem Hals sind böse blaue Flecken.« Hester sah sie sich genauer an. Es schien, als hätte jemand sie am Hals gepackt, und über das Brustbein lief eine tiefe Schramme, als wäre sie mit einem harten Fingernagel absichtlich gekratzt worden. »Ist das Ihr Blut?«, fragte Hester und zeigte auf die Spritzer vorn auf Kittys Mieder.
    Kitty stieß einen zitternden Seufzer aus. »Nein. Nein! Ich … Ich schätze, ich hab seine Nase erwischt, als ich zurückgeschlagen hab. Das ist nicht meines. Mir geht's gut. Nell blutet. Sie sollten sich um sie kümmern. Und Lizzie hat sich das Handgelenk gebrochen, vielleicht war's auch ein anderer.« Sie sprach ruhig, aber da sie immer noch zitterte, war Hester überzeugt, dass es ihr alles andere als gut ging und sie sie unmöglich wieder gehen lassen konnte. Sie hätte gerne gewusst, welche blauen Flecken sich unter ihren Kleidern verbargen und wie viele Schläge sie früher schon abbekommen hatte, aber sie stellte keine Fragen. Das war eine der Regeln; sie waren sich von Anfang an einig gewesen, dass keine von ihnen nach persönlichen Einzelheiten fragte oder über Beobachtungen und Vermutungen sprach. Der Zweck des Hauses war schlicht, die medizinische Hilfe anzubieten, die sie oder Mr. Lockhart, der gelegentlich hereinschaute und im Notfall leicht zu erreichen war, leisten konnten. Er hatte das Examen am Ende seiner Ausbildung wegen Trunksucht nicht bestanden, nicht weil er dumm oder unfähig war. Im Ausgleich für die fehlende Gesellschaft und wegen des Gefühls, irgendwo dazuzugehören, half er nur allzu bereitwillig mit.
    Er redete gern und bot ihnen von dem Essen an, das er statt Bezahlung bekam, und wenn er knapp bei Kasse war, schlief er in einem der Betten.
    Margaret bot Kitty einen mit heißem Wasser versetzten Whiskey an, und Hester wandte sich Nell zu, um sich deren tiefe, klaffende Schnittwunde anzusehen.
    »Das muss genäht werden«, sagte sie.
    Nell zuckte zusammen. Sie hatte schon einmal Bekanntschaft mit Hesters Nadelarbeit gemacht.
    »Sonst braucht es sehr lange, bis es zuheilt«, erklärte Hester ihr.
    Nell verzog das Gesicht. »Wenn Ihre Stiche immer noch so sind wie damals, als Sie mir die Hand genäht haben, würde man Sie aus jedem verdammten Ausbeutungsbetrieb werfen«, sagte sie gutmütig. »Jetzt fehlen nur noch die Knöpfe!« Sie zog die Luft zwischen den Zähnen ein, als Hester den Stoff von der Wunde abzog und diese wieder anfing zu bluten. »Meine Güte!«, sagte Nell, kreidebleich. »Seien Sie vorsichtig, ja? Sie haben ja Hände wie ein Bauarbeiter!«
    Hester war an Nells Kraftausdrücke gewöhnt, sie wusste, dass sie damit nur ihre Angst und ihre Schmerzen überspielte. Seit das Haus vor viereinhalb Monaten eröffnet worden war, war sie schon zum vierten Mal dort.
    »Man würd denken, wo Sie sich doch mit Florence Nightingale auf der Krim um Soldaten gekümmert haben und so, wären Sie ein bisschen sanfter, oder?«, fuhr Nell fort. »Ich wette, Sie haben von unseren Jungs genauso viele ins Jenseits befördert,
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