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Tod Auf Der Warteliste

Tod Auf Der Warteliste

Titel: Tod Auf Der Warteliste
Autoren: Veit Heinichen
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wurde verhört. Nach zwei Tagen und nach Hinterlegung einer Kaution in der Höhe der Höchststrafe brachte man ihn direkt zum Flughafen, wo er an allen anderen Passagieren vorbei zur Maschine nach Rom geführt wurde.
     
    Und noch ein Bild: »Strohleiche«, sagte der Kommissar in Paris während des Gesprächs, das er sehr behutsam mit Ramses führte. »Wir nennen so etwas Strohleiche. Das heißt, die Organe wurden entnommen und der entstandene Hohlraum mit Zellstoff ausgestopft. Auf unsere Anfrage hin erfuhren wir, daß Mademoiselle Leone bei dem Verkehrsunfall so schwere Verletzungen erlitten hatte, daß die inneren Organe zerstört wurden. Wir kennen das inzwischen. Es kommt immer häufiger vor, daß wir uns damit befassen müssen. Leichen, die ohne Organe aus dem Ausland zurückkommen, sind keine Einzelfälle mehr. Überwiegend aus Ländern der Dritten Welt, aber auch aus Europa. Meistens erfahren die Angehörigen es gar nicht. Palmenblätter oder Zellstoff eben, wie in ihrem Fall. Man weiß nicht, was dahintersteckt. Wirklich das, was man befürchtet, oder nur Schlamperei in einem Krankenhaus? Ich an Ihrer Stelle würde die Botschaft einschalten, um Näheres zu erfahren.«
    »Matilde erwartete ein Kind«, sagte Ramses tonlos.
    Der Polizist warf einen Blick auf die Papiere und schüttelte den Kopf. »Die Obduktion ergab, daß alle Organe entnommen wurden.« Er sprach nicht von der Möglichkeit, daß der Fötus in der Forschung gelandet sein konnte.
    Ramses hielt sich am Tisch fest, als er aufstand. Wortlos steuerte er zur Tür.
    »Warten Sie! Ich bringe Sie nach Hause.«
    »Danke«, sagte Ramses leise. »Es ist besser, ich gehe zu Fuß.«
    Mit offenem Mantel ging er eng an den Hauswänden entlang durch die Straßen von Paris. Er sah die Narbe vor sich, die ihren Körper entstellte, das Wort Strohleiche hallte in seinen Ohren. Die Botschaft! Er mußte die Botschaft einschalten. Aber wer war dafür zuständig? Ramses war Schweizer, Matilde Italienerin, sie lebten in Paris in zwei verschiedenen Wohnungen, obwohl sie seit vier Jahren zusammen waren – unverheiratet. Was würde ihm der italienische Botschafter schon sagen?
    Sie hatten sich während einer Tagung in Triest kennengelernt. Matilde Leone verbrachte die Ferien in ihrer Heimatstadt und hielt einen Vortrag während der alljährlich im Frühsommer stattfindenden »James Joyce Summer School«, zu der sich die internationalen Anhänger des Autors regelmäßig einfanden. Ramses ließ sich von »Le Monde« die Reise bezahlen und verfaßte dafür einen sehr oberflächlichen Artikel über die Tagung, der kaum über die Zusammenfassung des Programms hinausging. Schnell stellten sie fest, daß sie beide in Paris lebten, und Matilde lachte über den zweiten Vornamen auf seiner Karte. Sie wollte wissen, wie es dazu gekommen war. Lorenzo Ramses Frei erzählte ihr von seinem Vater, der ein närrischer Ägyptologe war und in seiner Wohnung im Zürcher Seefeld sogar einen echten Sarkophag mit Mumie in seinem Arbeitszimmer aufgebahrt hatte. Lorenzos Schulfreunde hatten ihm daraufhin diesen Spitznamen verpaßt, den er nie wieder loswerden sollte. Selbst sein Vater nannte ihn so.
    Matilde gefiel die Geschichte, und als sich die Runde der Joyceaner nach dem Abendessen auflöste, fragte sie Ramses, ob er noch Lust auf einen Digestivo hätte. Das war vor mehr als vier Jahren.
    Nur ihre Familie hatte das Recht, offiziell Nachforschungen zu verlangen. Er verständigte sie telefonisch. Am nächsten Tag war Ramses über München nach Triest geflogen. Er hatte Mühe, ihnen die Wahrheit zu sagen. Doch schließlich stellte Matildes Vater ihm eine Vollmacht aus, die anderntags von einem Notar beglaubigt und von vereidigten Übersetzern in drei Fremdsprachen übertragen wurde. Sie besprachen auch die Formalitäten des Begräbnisses. Er konnte sie nicht davon überzeugen, Matilde in Paris zu bestatten. Die Familie wollte sie bei sich im Grab der Dynastie auf dem Friedhof Sant’Anna in Triest.
     
    Der Abend hatte sich herabgesenkt. Wie ein Schriftband lief der Name dieses Arztes vor seinen Augen ab. Lorenzo Ramses Frei starrte noch immer an die Decke des Salons. Er lag im Halbdunkel unverändert auf dem Diwan.
    »Jetzt habe ich dich«, sagte Ramses leise.
    Er sah das Bild des Mannes vor sich, so wie er ihn zum ersten Mal in Malta gesehen hatte, mit der Haarsträhne, die ihm ins Gesicht hing, und der blutigen Nase. Erst gestern hatte er ihn wiedergesehen, als er an der Ampel aus dem Wagen
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