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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Platz geschaffen werden. Mein Großvater, vormals ein äußerst kluger Geschäftsmann, bezog jetzt Invalidenrente. Er lag nur noch im Bett oder saß am Küchentisch und las Westernromane, »Die Gefangene der Cheyenne« und Ähnliches. Im Lager hatte er sich an Tuberkulose angesteckt. Er galt als geheilt, aber er rauchte wie ein Schlot und starb zwei Jahre später an Lungenkrebs. Nach seinem Tod angelte sich Irmela jenen Zahnarzt, bei dem ihre Schwester eine Zeit lang gearbeitet hatte. Dieser hatte sich von seiner ersten Frau scheiden lassen und war zu haben. Sophie hatte inzwischen gekündigt, ihr Studium wieder aufgenommen. Später lernte sie einen Spanier kennen und zog mit ihm nach Benidorm, wo sie bis zum Rentenalter Kinderärztin war. Während Irmela, noch immer eine sehr schöne Frau, die Jahre des Wirtschaftswunders in
Sicherheit und zunehmendem Wohlstand genoss, pubertierte Amalia mit größter Intensität, provozierte einen Eklat nach dem anderen, flog aus verschiedenen Schulen. Sie war groß, ungelenkig, mit einem Sinn für schwarzen Humor, den viele nur mäßig oder überhaupt nicht komisch fanden. Sie eckte überall an, und Irmela zeigte viel Nachsicht. Der Stiefvater wäre gerne strenger mit ihr umgegangen, aber Irmela nahm sie stets in Schutz, und am Ende tat Amalia nur das, was sie wollte.
    Zunächst war sie recht füllig, trug Brille und Zahnspange. Erst mit siebzehn wurde sie richtig hübsch. Es war das goldene Zeitalter der Hippies. Amalia machte alles mit. Auf der Insel Wright schlief sie schlammverkrustet in einem dünnen Schlafsack, wobei sie sich eine Bronchitis holte. Sie tanzte blumenbekränzt in Indien ( Hare Krishna , hare , hare !), traf Buddha  – oder jedenfalls jemanden, der ihm ähnlich sah  – auf einer Blumenwiese in Nepal und trampte durch Afghanistan, lange bevor das Wort »Taliban« rund um den Erdball ging. Wieder sesshaft geworden, studierte sie Filmregie. Sie war begabt, realisierte einige Doku-Filme für das Fernsehen, gute Sachen, immer mit sozialer Aussage, die Beachtung fanden. Sie drehte einen Film über Rostropowitsch, inklusive der berühmten Szene, die zeigt, wie er nach dem Fall der Mauer spielte. Und lernte dabei Tobias Steckborn kennen, einen Hamburger Musiker, der wundervoll Oboe spielte, was im Allgemeinen als brotlose Kunst galt, die er sich aber leisten konnte, weil sein Vater nach dem Krieg in Immobilien investiert hatte. Als der und seine Frau gestorben waren, erbten Tobias  – mein Vater  – und seine beiden Schwestern das viele Geld. Die eine Schwester zog nach Argentinien, die andere nach Ibiza, und Tobias, der immer brav gewesen war, rührte sich nicht vom Fleck und spielte im Rundfunkorchester. Er sah Amalia und war von der ersten Sekunde an »hin
und weg«. Sie war, wie er mal gestand, die Person, die seinem Seelenbild entsprach. »Ich sah mich in ihr, wie in einer Verkleidung«, hatte er mal gesagt. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen, war jedoch gewaltig beeindruckt. Bei jener ersten Begegnung soll Amalia schwarze Shorts getragen haben, ein anliegendes Top, mit kleinen Spiegeln bestickt, und einen wallenden afghanischen Hirtenmantel. Mit ihrem rotblonden Haar und ihrer tiefen Stimme (sie rauchte damals ein Päckchen Camel pro Tag) hatte sie sich wie eine huldvolle Königin in Tobias’ Leben niedergelassen. Ihr Hirtenmantel war ein Staubfänger und stank nach Ziegenfell, sie ging auch im Winter barfuß in Sandalen. Amalia hat heute noch Hornhaut unter der Fußsohle, wie eine Bäuerin, und ist sogar stolz darauf. »Bricht mitten in der Nacht ein Feuer aus, kann ich sofort losrennen, ohne zuerst die Pantoffeln zu suchen«, pflegt sie zu sagen. Tobias, der antiseptisch und nicht die Spur handfest war, liebte sie abgöttisch, zündete Kerzen an, wenn sie meditierte, und ernährte sich nur noch vegetarisch. Als ich geboren wurde, bestimmte Amalia, dass Tobias dabei zu sein hatte. Tobias war also Zeuge, wie ich, glitschig und rot und laut schreiend, das Licht dieser Welt erblickte. Er schnitt tapfer die Nabelschnur durch, wobei ihm das Abendessen hochkam und er aus dem Kreißsaal rennen musste, um sich zu übergeben. Ich erzähle das nur, weil die Fakten zeigen, dass Bravour in unserer Familie einfach keine Wurzeln schlagen kann. Immerhin wurden Amalias Filme bei Festivals gezeigt, sie gewann sogar
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